Montag, 6. Juli 2020
Luna -06-
In dem Moment geht eine Veränderung mit Lars vor. Was die Jungs reden, daran kann ich mich nicht mehr erinnern, aber es ist sehr derb. Mit einem schnellen Ruck hat einer der Jungs den Klettverschluss gelöst und geht mir an die Hose. Lars hält mich an den Schultern. Ich gerate in eine Schockstarre.
In diesem Moment höre ich Hundegebell und die Kerle zerren mich zwischen die Büsche. Da ist der Hund auch schon heran. Ich erkenne Beauty, deren gefährlichen Tonfall ich so noch nie gehört habe. Das tiefe Knurren erschreckt auch die Kerle, die die Flucht ergreifen, nicht ohne dass Beauty kurz zuschnappt. Sie bleibt aber bei mir und beginnt nun winselnd zu bellen, als ob sie Hilfe ruft. Beauty leckt mich zwischendurch über Gesicht und Wange, und dann ist auch schon Papa bei mir. Er setzt mich wieder in den Rollstuhl und schiebt mich nachhause zurück.
Den Rest des Nachmittags verbringe ich auf seinem Schoß. Das Ohr an Papas Herz gedrückt ist seit je her mein Lieblingsplatz. Wie es seine Art ist, hält er mich mit starken Armen und sagt kein Wort.
An diesem Tag gehe ich früh schlafen. Beauty legt sich neben mich und lässt mich bei ihr ankuscheln. Papa setzt sich auf die Bettkante und streichelt mir die Wange. Ich habe das Gefühl, dass er wissen will, was heute Nachmittag passiert ist. Also beginne ich stockend, es ihm zu erzählen. Dann wünscht er mir noch eine gute Nacht und lässt die Nachttischlampe brennen, als er ins Wohnzimmer zurückgeht.
Wochen später ziehen wir aus der Stadt auf das Land, was auch einen Schulwechsel bedeutet. Wieder habe ich das Gefühl eine Außenseiterin zu sein, nicht dazu zu gehören. Die Menschen stehen reserviert jedem gegenüber, der irgendwie anders ist als sie. Normalerweise behandeln sie mich wie Luft. Dann kommen in der Pause zwei Jungs auf mich zu und machen sich laut lustig über mich. Sie verspotten mich und lachen mich aus. Ich versuche mich von ihnen zu entfernen, aber sie folgen mir. Schließlich hält einer der Beiden meinen Rollstuhl fest und nun beginnen sie, mich zu beschimpfen.
In diesem Moment steht plötzlich ein Schüler aus der Abschlussklasse da und beschimpft die Jungs, die sich widerwillig trollen. Der Lehrer, der die Pausenaufsicht führt, zerstreut nun die Traube sensationslüsterner Mitschüler und der junge Mann fragt mich:
„Ich bin der Maik. Magst du mit mir dort hinüber…?“
Er zeigt auf die Platten aus Kiesbeton, mit denen ein Hochbeet inmitten des Pausenhofes eingefasst ist. Ich nicke und steuere meinen Rollstuhl dorthin. Er setzt sich auf eine Betonplatte und meint:
„Ich finde es nicht gut, was da eben passiert ist…“
„Ach weißt du,“ versuche ich der Situation die Schärfe zu nehmen, „ich bin solch ein Verhalten gewohnt. Ich bin anders als sie. Damit können die Leute nicht umgehen. In den meisten Fällen ignorieren sie mich einfach. Aber es gibt natürlich überall auch solche…“
„Das zeugt von Unreife und fehlendem elterlichen Einfluss…“
„Meinst du?“
„Da bin ich mir sicher! Darf ich fragen, wie du heißt?“
„Ich bin die Andrea aus der Acht A.“
Gerade ertönt das Pausenzeichen. Wir stehen auf und gehen auf die Glastüren zu, wo das Gedränge immer größer wird. Ich habe den Eindruck, dass die Rempeleien heute weniger sind als bisher.
Drinnen fragt Maik noch: „Sehen wir uns später wieder?“
Ich setze mein gewinnendstes Lächeln auf und antworte ihm: „Gerne!“
Dann trennen sich unsere Wege.
Nach Schulschluss treffe ich ihn an der Anzeigetafel im Eingangsbereich des Schulgebäudes wieder.
„Hi, Andrea,“ spricht er mich lächelnd an. „Hast du ein Handy? Magst mir deine Nummer geben?“
Ich nicke und krame mein Handy aus der Tasche auf meinem Schoß. Dann gebe ich Maik die Nummer. Zum Abschied beugt er sich zu mir herunter und berührt meine Wange ganz sanft mit seiner. Er gibt mir die Hand nachdem er sich wieder aufgerichtet hat und sagt:
„Ich hab dich gern.“
„Ich dich auch, Maik!“ beeile ich mich, ihm zu versichern.
Draußen auf dem Vorplatz der Schule schaut er sich suchend um und fragt:
„Wirst du nicht abgeholt?“
„Warum?“ frage ich zurück. „Ich bin alt genug mich selbständig fortzubewegen.“
Er wird leicht rot und lächelt entschuldigend.
„Darf ich dich dann wenigstens nachhause begleiten?“
„Gern,“ stimme ich zu und so gehen wir den fünfminütigen Fußweg nebeneinander her.
Er erzählt mir, dass er einmal die Woche am Nachmittag im örtlichen Sportverein Handball spielt. Es gibt im Ort auch einen Behinderten-Sportverein, sagt er, und beide Vereine haben vor, in einem halben Jahr ein Benefiz-Turnier zu veranstalten.
„Möchtest du vielleicht daran teilnehmen?“ fragt er.
Wir sind schon in der Nähe meines Zuhauses angekommen. Ich mache ein zweifelndes Gesicht.
„Ich weiß nicht… Außerdem, da hinten wohne ich…“
„Okay,“ antwortet er. „Wir sehen uns!“
Dann verabschiedet er sich von mir und bleibt stehen. Den restlichen Weg rolle ich alleine. In meiner Brust arbeitet es. Maik mag ich jetzt schon sehr. An der Eingangstür des Hauses, indem unsere Wohnung liegt, blicke ich noch einmal zurück. Maik steht immer noch an der Ecke. Ich winke ihm zu und klingele. Während Mama die Eingangstüre aufdrückt, winkt er zurück und überquert die Straße.
Mama kommt mir entgegen und hilft mir hinein.
Am Abend bekomme ich eine Nachricht von Maik mit einem Foto von ihm vor dem Spiegel eines großen Waschraumes. Er trägt ein Trikot und sieht ziemlich verschwitzt aus. Es ist eine Gute-Nacht-Botschaft. Am liebsten würde ich ihn jetzt in meine Arme schließen. Ich wünsche ihm ebenfalls ein Gute Nacht und wunderschöne Träume.



Luna -05-
Wieder lässt sie mich nicht ausreden.
„Mach dir keine Sorgen, Paps! Maik spielt in der Herrenmannschaft. Er begleitet mich. Mir passiert schon nichts!“
„Also gut,“ gebe ich mich geschlagen.

*

Am Tag des Turniers, für das in der ganzen Kleinstadt Plakate aufgehängt worden sind, gehen wir zum Sportplatz. Es herrscht großes Gedränge. Wir begleiten Andrea zu dem niedrigen Gebäude mit den Kabinen. Sie rollt voraus, an Maiks Seite, und wir folgen ihr mit Beauty. An der Tür dreht sie ihren Rollstuhl und winkt uns noch einmal zu. So fröhlich und engagiert, so lebendig, habe ich unser Mädchen das letzte Mal vor fast zehn Jahren vor ihrer Einschulung gesehen. Glücklich umfasse ich Birgits Schultern.
Dann wenden wir uns ab und streben dem Eingang des Sportplatzes zu. Es gibt dort rund um das Spielfeld eine etwa ein Meter zwanzig hohe Böschung ohne Sitzplätze. Wir stellen uns mit Beauty in die vorderste Reihe auf Spielfeldhöhe. Wegen Beauty gibt es einige befremdliche Blicke, die ich mit der Aussage begegne:
„Das ist Beauty. Sie ist ein Behinderten-Begleithund! Unsere Tochter spielt in der Behinderten-Mannschaft.“
‚Jetzt habe ich Beauty auf die Schnelle vom Familien-Begleithund hochgestuft,‘ denke ich lächelnd. Aber die Aussage wird akzeptiert. Niemand zweifelt den erfundenen Titel an.
Dann beginnt das Turnier mit den Damenmannschaften des Ortes. So aktiv habe ich Andrea noch nie gesehen. Sie ist den nicht behinderten Handballerinnen in ihren geliehenen Rollstühlen stets voraus, spielt aber auch in vorderster Front ihrer behinderten Mannschaftskolleginnen und führt sie schließlich zum Sieg.
Ich muss mich neben Beauty hinhocken, um sie besser im Griff zu haben. Am liebsten würde sie mitspielen. Ihr Gebell übertönt fast das Fangeschrei der Zuschauer.
Dann spielen die Herrenmannschaften auf Rollstühlen gegeneinander. Schließlich spricht der Vorsitzende des örtlichen Sportvereins über die Stadion-Lautsprecher.
„Liebe Sportfreunde und Mitbürger! Ich darf ihnen einige Besonderheiten des Turniers bekanntgeben: Da es sich um ein Freundschaftsturnier handelt, spielen nun die Herren gegen die Damen in beiden Kategorien. Zum Abschluss des Turniers spielen dann die Siegermannschaften gegeneinander. Der Tag soll bei gemütlichem Zusammensein im Saal unserer Gaststätte ausklingen. Dazu sind alle herzlich eingeladen!“
Wie angekündigt sehen wir nun ein Spiel ohne Rollstühle, in dem die Damenmannschaft der Kleinstadt gegen die Herrenmannschaft antritt. Im nächsten Spiel stehen sich die beiden Rollstuhlmannschaften des Behindertensports gegenüber und den Abschluss bildet ein Spiel, das die Herrenmannschaften des Sportvereins und des Behindertensports bestreiten. Alle Spiele haben zweimal zwanzig Minuten gedauert, so dass das Turnier mit Pausen fünf Stunden gedauert hat.
Wir verlassen den Sportplatz jedoch nach der ersten Halbzeit des Abschlussspiels und spazieren mit Beauty durch die angrenzenden Felder. Sie muss sich erleichtern und soll auch ihr Adrenalin abbauen dürfen. Dazu ziehe ich das Plastik-Ei, das einem Rugbyball nachempfunden ist aus meinem Rucksack und werfe ihn mehrmals. Beauty freut sich über die Bewegung und eine dreiviertel Stunde später erreichen wir den Saal der örtlichen Gaststätte.
Ich schaue mich um und finde Andrea mit Maik und einem Ehepaar in unserem Alter an einem der Tische. Dort gehen wir hin und werden von dem anderen Ehepaar freundlich begrüßt, die sich als Maiks Eltern vorstellen.
„Andrea ist sehr sportlich!“ meint Maiks Vater anerkennend im Laufe des Gesprächs.
Ich nicke lächelnd und antworte:
„Ich bin auch sehr stolz auf sie.“
Sie scheint ihre Aufgabe gefunden zu haben, bei der sie sich akzeptiert fühlt. Das spornt an und schüttet Glückshormone aus. Hinzu kommt, dass nun auch noch jemand in ihrer Altersklasse an sie glaubt, nicht nur ihre Eltern. Andrea behält das Training bei. Ihre schulischen Leistungen bessern sich merklich. Maik verbringt viel Zeit mit Andrea. Sie haben anscheinend auch den gleichen Musikgeschmack.

*

Als ich, Andrea, elf Jahre alt bin, habe ich Dennis, einen zwei Jahre älteren Klassenkameraden so süß gefunden - wie er sich bewegt und wie er sich mir gegenüber verhält -, dass ich beginne kleine Gedichte zu schreiben und sie mit Anime-Bildchen zu verzieren. Ich trage sie bei mir und warte auf eine Gelegenheit, sie ihm während der Pausen in der Schule zu überreichen. Aber dann hat er nur Augen für seine Kumpels und die Gespräche drehen sich recht altklug nur um Fußball. Nach einer Woche gebe ich es auf und klage Paps mein Herzeleid.
Bei ihm fühle ich mich geborgen und akzeptiert. Er versteht es, mich immer wieder zu trösten. Auch in Gegenwart von Beauty, unserer Bordercollie-Hündin, fühle ich mich wohl. Sie lebt bei uns, seit ich denken kann. Beauty ist mir die beste Freundin nach Mama. Sie widerspricht mir niemals und erkennt stets wie ich mich fühle. Etwa anderthalb Jahre nach Dennis verliebe ich mich erneut. Doch der Junge will nichts von einer Behinderten wissen, wie er sagt. Das ist so etwas von niederschmetternd!
Papa richtet mich wieder auf. Er lenkt mich ab mit einem Besuch in einem Freizeitpark. Ich werde misstrauisch bei jeder Begegnung mit Jungs. Ein Jahr danach schöpfe ich wieder Hoffnung. Diesmal hat mich ein Junge aus der Parallelklasse angesprochen. Mich, eine Behinderte! Mein Herz macht einen Sprung. Wir treffen uns an einem Nachmittag nach den Hausaufgaben zum Eisessen. Er ist wirklich süß und so bemüht um mich!
Eine Woche danach schickt er mir eine Nachricht aufs Handy, in der er fragt, ob ich Lust zu einem Spaziergang hätte. Erfreut sage ich zu. Eine Stunde später habe ich Zeit und verlasse die Wohnung. Lars wartet schon und wir gehen nebeneinander über den Bürgersteig. Er zeigt mir ein paar Dateien auf seinem Handy. Die Musik ist mir zwar etwas zu aggressiv, aber er ist ja ein Junge.
Schließlich kommen wir zu der Grünanlage, die unsere Straße mit der Parallelstraße verbindet. Er steuert auf das schmiedeeiserne Tor zu, das immer offensteht und ich folge ihm auf meinem Rollstuhl. Hinter dem Tor gehen wir über den Kiesweg am Rand der Grasfläche, als zwei Jungs aus den Büschen treten.