Luna -05-
Wieder lässt sie mich nicht ausreden.
„Mach dir keine Sorgen, Paps! Maik spielt in der Herrenmannschaft. Er begleitet mich. Mir passiert schon nichts!“
„Also gut,“ gebe ich mich geschlagen.

*

Am Tag des Turniers, für das in der ganzen Kleinstadt Plakate aufgehängt worden sind, gehen wir zum Sportplatz. Es herrscht großes Gedränge. Wir begleiten Andrea zu dem niedrigen Gebäude mit den Kabinen. Sie rollt voraus, an Maiks Seite, und wir folgen ihr mit Beauty. An der Tür dreht sie ihren Rollstuhl und winkt uns noch einmal zu. So fröhlich und engagiert, so lebendig, habe ich unser Mädchen das letzte Mal vor fast zehn Jahren vor ihrer Einschulung gesehen. Glücklich umfasse ich Birgits Schultern.
Dann wenden wir uns ab und streben dem Eingang des Sportplatzes zu. Es gibt dort rund um das Spielfeld eine etwa ein Meter zwanzig hohe Böschung ohne Sitzplätze. Wir stellen uns mit Beauty in die vorderste Reihe auf Spielfeldhöhe. Wegen Beauty gibt es einige befremdliche Blicke, die ich mit der Aussage begegne:
„Das ist Beauty. Sie ist ein Behinderten-Begleithund! Unsere Tochter spielt in der Behinderten-Mannschaft.“
‚Jetzt habe ich Beauty auf die Schnelle vom Familien-Begleithund hochgestuft,‘ denke ich lächelnd. Aber die Aussage wird akzeptiert. Niemand zweifelt den erfundenen Titel an.
Dann beginnt das Turnier mit den Damenmannschaften des Ortes. So aktiv habe ich Andrea noch nie gesehen. Sie ist den nicht behinderten Handballerinnen in ihren geliehenen Rollstühlen stets voraus, spielt aber auch in vorderster Front ihrer behinderten Mannschaftskolleginnen und führt sie schließlich zum Sieg.
Ich muss mich neben Beauty hinhocken, um sie besser im Griff zu haben. Am liebsten würde sie mitspielen. Ihr Gebell übertönt fast das Fangeschrei der Zuschauer.
Dann spielen die Herrenmannschaften auf Rollstühlen gegeneinander. Schließlich spricht der Vorsitzende des örtlichen Sportvereins über die Stadion-Lautsprecher.
„Liebe Sportfreunde und Mitbürger! Ich darf ihnen einige Besonderheiten des Turniers bekanntgeben: Da es sich um ein Freundschaftsturnier handelt, spielen nun die Herren gegen die Damen in beiden Kategorien. Zum Abschluss des Turniers spielen dann die Siegermannschaften gegeneinander. Der Tag soll bei gemütlichem Zusammensein im Saal unserer Gaststätte ausklingen. Dazu sind alle herzlich eingeladen!“
Wie angekündigt sehen wir nun ein Spiel ohne Rollstühle, in dem die Damenmannschaft der Kleinstadt gegen die Herrenmannschaft antritt. Im nächsten Spiel stehen sich die beiden Rollstuhlmannschaften des Behindertensports gegenüber und den Abschluss bildet ein Spiel, das die Herrenmannschaften des Sportvereins und des Behindertensports bestreiten. Alle Spiele haben zweimal zwanzig Minuten gedauert, so dass das Turnier mit Pausen fünf Stunden gedauert hat.
Wir verlassen den Sportplatz jedoch nach der ersten Halbzeit des Abschlussspiels und spazieren mit Beauty durch die angrenzenden Felder. Sie muss sich erleichtern und soll auch ihr Adrenalin abbauen dürfen. Dazu ziehe ich das Plastik-Ei, das einem Rugbyball nachempfunden ist aus meinem Rucksack und werfe ihn mehrmals. Beauty freut sich über die Bewegung und eine dreiviertel Stunde später erreichen wir den Saal der örtlichen Gaststätte.
Ich schaue mich um und finde Andrea mit Maik und einem Ehepaar in unserem Alter an einem der Tische. Dort gehen wir hin und werden von dem anderen Ehepaar freundlich begrüßt, die sich als Maiks Eltern vorstellen.
„Andrea ist sehr sportlich!“ meint Maiks Vater anerkennend im Laufe des Gesprächs.
Ich nicke lächelnd und antworte:
„Ich bin auch sehr stolz auf sie.“
Sie scheint ihre Aufgabe gefunden zu haben, bei der sie sich akzeptiert fühlt. Das spornt an und schüttet Glückshormone aus. Hinzu kommt, dass nun auch noch jemand in ihrer Altersklasse an sie glaubt, nicht nur ihre Eltern. Andrea behält das Training bei. Ihre schulischen Leistungen bessern sich merklich. Maik verbringt viel Zeit mit Andrea. Sie haben anscheinend auch den gleichen Musikgeschmack.

*

Als ich, Andrea, elf Jahre alt bin, habe ich Dennis, einen zwei Jahre älteren Klassenkameraden so süß gefunden - wie er sich bewegt und wie er sich mir gegenüber verhält -, dass ich beginne kleine Gedichte zu schreiben und sie mit Anime-Bildchen zu verzieren. Ich trage sie bei mir und warte auf eine Gelegenheit, sie ihm während der Pausen in der Schule zu überreichen. Aber dann hat er nur Augen für seine Kumpels und die Gespräche drehen sich recht altklug nur um Fußball. Nach einer Woche gebe ich es auf und klage Paps mein Herzeleid.
Bei ihm fühle ich mich geborgen und akzeptiert. Er versteht es, mich immer wieder zu trösten. Auch in Gegenwart von Beauty, unserer Bordercollie-Hündin, fühle ich mich wohl. Sie lebt bei uns, seit ich denken kann. Beauty ist mir die beste Freundin nach Mama. Sie widerspricht mir niemals und erkennt stets wie ich mich fühle. Etwa anderthalb Jahre nach Dennis verliebe ich mich erneut. Doch der Junge will nichts von einer Behinderten wissen, wie er sagt. Das ist so etwas von niederschmetternd!
Papa richtet mich wieder auf. Er lenkt mich ab mit einem Besuch in einem Freizeitpark. Ich werde misstrauisch bei jeder Begegnung mit Jungs. Ein Jahr danach schöpfe ich wieder Hoffnung. Diesmal hat mich ein Junge aus der Parallelklasse angesprochen. Mich, eine Behinderte! Mein Herz macht einen Sprung. Wir treffen uns an einem Nachmittag nach den Hausaufgaben zum Eisessen. Er ist wirklich süß und so bemüht um mich!
Eine Woche danach schickt er mir eine Nachricht aufs Handy, in der er fragt, ob ich Lust zu einem Spaziergang hätte. Erfreut sage ich zu. Eine Stunde später habe ich Zeit und verlasse die Wohnung. Lars wartet schon und wir gehen nebeneinander über den Bürgersteig. Er zeigt mir ein paar Dateien auf seinem Handy. Die Musik ist mir zwar etwas zu aggressiv, aber er ist ja ein Junge.
Schließlich kommen wir zu der Grünanlage, die unsere Straße mit der Parallelstraße verbindet. Er steuert auf das schmiedeeiserne Tor zu, das immer offensteht und ich folge ihm auf meinem Rollstuhl. Hinter dem Tor gehen wir über den Kiesweg am Rand der Grasfläche, als zwei Jungs aus den Büschen treten.