Sonntag, 19. Juli 2020
Luna -32-
Danach fordert Maik Beauty auf, das Spiel fortzusetzen. Es folgt ein Gerangel um den Ball. Beauty wedelt aufgeregt mit dem Schwanz und versucht, mir den Ball abzunehmen. Ich stoße ihn spontan in eine Zimmerecke. Beauty folgt dem Ball. Als ich Beauty erreicht habe, beginnt sie zu knurren. Erschrocken weiche ich etwas zurück und schaue zu Maik auf.
„Beauty knurrt, hat aber ihre Zähne nicht gefletscht, wie du siehst. Sie droht dir also momentan nicht,“ erklärt er mir. „Es ist vielmehr ein spielerischer Kampf um das Vorrecht am Ball, in dieser konkreten Situation. Gleichzeitig geht es darum, wer von euch beiden die ‘Erste’ ist. Schau!”
Beauty hat den Ball voll für sich beansprucht. Sie steht über ihm, so dass er sich unter ihrem Bauch befindet, und schaut zu mir, ohne mich direkt anzusehen.
„Geh langsam seitwärts auf Beauty zu,” rät mir Maik jetzt. „Sie wird bei Unterschreiten einer gewissen Entfernung wieder zu knurren beginnen. Mach du das dann auch. Seid ihr dann quasi auf Tuchfühlung, dann leg deine Wange beim Knurren ruhig an ihre! Denk daran: wer zuerst aufhört, hat verloren. Derjenige muss immer hinter dem Anderen bleiben und bekommt auch immer zuletzt sein Futter.”
Ich kräusele die Stirn und schaue Maik skeptisch an. Dann versuche zu knurren, was mir aber kläglich misslingt. Mit Maiks Hilfe bekomme dann doch ich so etwas ähnliches zustande. Ich nähere mich Beauty langsam mit tiefgestelltem Kopf seitwärts und ohne sie direkt anzuschauen.
Beauty weicht mitsamt Ball langsam weiter zurück, um den Abstand zu wahren. Aber ich bin hartnäckig. Nach zwei Metern bleibt Beauty schließlich stehen und beginnt zu knurren. Ihre Zähne hält sie bedeckt. Ich probiere es nun auch, während ich mich immer noch seitwärts nähere. Beauty lässt mich näher an sich heran, ohne den Ball aufzugeben. Dann entfernt sie sich eine Schulterbreit vom Ball. Es hat den Anschein, als gibt sie ihn frei.
Das verunsichert mich etwas und ich schaue zu Maik auf. Der nickt mir lächelnd zu, also nähere ich mich Beauty knurrend weiter. Sie knurrt ebenso und reckt dabei die Schnauze gen Himmel. Als ich Beauty erreiche, berühre ich sie zaghaft an der Schulter. Dann lege ich meine Wange an Beautys und schaue ebenfalls zur Zimmerdecke hoch beim Knurren.
Nach einer Weile gibt Beauty auf und dreht sich auf den Rücken.
„Nun streichele Beauty sanft,” sagt Maik, der nahe an uns herangetreten ist.
Ich tue es und Maik erklärt:
„Dieses Auf-den-Rücken-drehen ist die Unterwürfigkeitsgeste. Beauty hat aufgegeben und akzeptiert, dass du die Erste von euch Beiden bist.”

*

In den folgenden Wochen werde ich mit Maiks Hilfe immer aufmerksamer für Beautys Gestik und Mimik. Ich lerne ihre Bedeutung im Zusammenhang mit der aktuellen Situation erfassen und ertappe mich dabei, dass ich Beauty auf ähnliche Weise antworte. Mama sagt eines Abends zu Papa:
„Beauty und Andrea sind ein Herz und eine Seele. Sie verstehen sich blind. Das wird ein großer Schock für Andrea, wenn Beauty einmal nicht mehr ist.“
„Nuuuun,“ dehnt Papa die Antwort. „Beide haben ja schon eine Menge miteinander erlebt! Beauty ist Andreas große Beschützerin. Sicher, Beauty ist inzwischen eine Greisin. Ich bin mir aber sicher, dass Andrea versteht, dass Beauty nicht ewig lebt.“
In dem Moment wird die Tür des Wohnzimmers geschlossen und ich kann der weiteren Unterhaltung nicht mehr folgen. Sicher, Mama und Papa haben Beauty in der letzten Zeit immer öfter zum Tierarzt bringen müssen. Sie ist ja auch ein weiblicher Methusalem, mit ihren inzwischen fast 17 Jahren. Ich bin gespannt, ob Mama und Papa sich eine andere junge Hündin ins Haus holen oder erst einmal ohne Hund leben wollen.
Bei Maiks nächstem Besuch erzähle ich ihm von dem Bruchstück des Gesprächs, das ich mitbekommen habe. Er nimmt mich in den Arm und fragt:
„Bekommt Beauty regelmäßig Medikamente?“
„Ja, seit dem letzten Tierarztbesuch,“ antworte ich ihm.
„Da Beauty inzwischen so alt ist, könnten es Schmerzmittel sein, die Altersgebrechen erträglicher machen. Verabschiede dich am besten in Gedanken allmählich von deiner guten Freundin und Beschützerin. Es könnte sein, dass sie eines Morgens nicht mehr aufwacht, dass sie am Vorabend friedlich eingeschlafen ist…“
Ich schaue zu Maik auf, der mich liebevoll anblickt. Also umfasse ich seinen Brustkorb und kuschele mich stumm bei ihm an. Wir genießen beide den intimen Moment. Dann sage ich leise:
„Du hast mich die Hundekommandos gelehrt und seit unserem Urlaub bei deinem Onkel in Süddeutschland auch die ‚nonverbale Kommunikation‘ der Hunde. Ich habe erlebt, dass ich mich seitdem mehr und mehr mit Beauty unterhalten kann. Das erzeugt ein ambivalentes Gefühl in mir - Furcht und die Faszination gleichzeitig…”
Maik setzt sich auf, dreht sich zu mir und nimmt meinen Kopf in beide Hände, während er mir in die Augen schaut. Er fragt:
„Kannst du mir das näher beschreiben, Andrea?”
„Eine Hündin fühlt sich bei ihrem Herrn geborgen und sicher. Du hast mich gelehrt wie eine Hündin zu denken. Ich weiß auch, dass ich dir vollkommen vertrauen kann. Viele Frauen macht es sicher skeptisch! Ich könnte mit meinen Eltern oder Großeltern ganz bestimmt nicht offen über meine Gefühle reden. Du bist in der Beziehung der einzige Mensch, dem ich mich so öffnen kann.“



Luna -31-
In den nächsten Tagen darf ich wieder Maik beim Arbeiten mit den Hunden zuschauen. Dafür fährt er mit mir am Wochenende in der Ferienmitte in den Europapark. Der Freizeitpark ist ein Erlebnis! Dann ist auch schon der Tag des Abschieds gekommen. Onkel Hans und Tante Katharina verabschieden uns herzlich am Morgen auf dem Bahnhof. Am Nachmittag schließen mich Mama und Papa erleichtert in die Arme. Auch ich freue mich, sie wiederzusehen, war dies doch mein erster Urlaub ohne sie. Trotzdem haben mir die zwei Wochen sehr gut getan.

*

Nach den Herbstferien hängt Maik fast jeden Abend bei mir ab. Für Mama und Papa gehört er inzwischen quasi zur Familie. Wir sitzen zusammen und hören Musik.
Darüber vergeht mehr als eine Woche, bis er mich fragt:
„Du lebst doch schon mit Beauty zusammen seit du denken kannst. Da spürst du sicher, was sie jeweils gerade von dir will und wie sie fühlt, wie es ihr geht?“
Ich frage mich, was er wohl gerade auf dem Herzen hat. Also schaue ich ihm prüfend in die Augen und frage zurück: „Jaaa?“
„Na,“ beginnt Maik mir sein Herz auszuschütten. „Was da zwischen dir und Beauty abläuft, nennt man ‘nonverbale Kommunikation‘. Ich denke mal, das läuft bei euch beiden intuitiv ab. Du weißt was Beauty will, kannst ihr aber nicht auf gleicher Ebene antworten, weil wir Menschen uns verbal unterhalten. So sprechen wir auch mit den Hunden.“
Ich schaue ihn mit großen Augen fragend an.
„Und?“
„Versetz‘ dich mal in Beauty,“ redet er weiter. „Wenn du sie mit ihrem Namen ansprichst hebt sie den Kopf und schaut dich an. Redest du dann weiter und es handelt sich nicht um ein Codewort, das sie kennt – also ein Kommando, dann versteht sie nur ‘Blablabla‘. Sie kann auf der Vibration deiner Stimme deine emotionale Verfassung herauslesen und wird dann dementsprechend reagieren: Bist du verärgert, wird sie versuchen, der Situation die Schärfe zu nehmen. Sie wird Beschwichtigungssignale senden, die allerdings von vielen Menschen missverstanden werden. Bist du liebevoll gestimmt, wird sie sich an dich drängen, an dir reiben.
Die Gestik und Mimik der Hunde, deren ‘nonverbale Kommunikation‘ also zu erlernen, wäre für die LUNA bestimmt von Vorteil…“
Ich muss lachen, umarme und küsse ihn.
„Du willst also weitermachen mit dem Training…
Maik lächelt verschmitzt und erzählt mir einiges darüber, das er sicher bei seinem Onkel gelernt hat. Dann nimmt er einen Ball und wir spielen ein paar Minuten, als wir ein Kratzen an der Zimmertür hören. Maik erhebt sich aus der Hocke und lässt Beauty zu uns herein.
Sie orientiert sich kurz und geht sofort mir gegenüber in die Spielverbeugung. Ich lächele und schiebe ihr gerne den Ball zu. Sie stoppt den Ball, legt die Pfote darauf und schaut scheinbar erwartungsvoll von einem zum anderen.
„Wer ein Spielzeug hat, dem gehört es!“ kommentiert Maik ihr Verhalten und lächelt.
Ich runzele die Stirn, da ich etwas enttäuscht bin. Das Spiel soll zu Ende sein, kaum dass es begonnen hat?
„Beauty wird den Ball bestimmt nicht so einfach aufgeben!“ meint Maik nun. „Aber sie wird erlauben, dass du mit ihr damit spielst. Du musst zum Einen eine Beschwichtigungsgeste senden und zum Anderen über die Spielaufforderung zeigen, was du möchtest. Also: schau Beauty nicht direkt an, dreh auch den Kopf weg und zeig ihr deine Körperseite – in dieser Reihenfolge, wenn die erste Stufe noch nicht wirkt, nimm die nächsthöhere! Dabei geh von Anfang an in die Spielverbeugung!”
Also beuge ich nun meine Ellbogen, so dass ich vorne tiefer bin und vermeidet es, Beauty direkt anzuschauen. Beauty knurrt leise und bewegt sich mit dem Ball langsam rückwärts. Darüber bin ich erstaunt, denn sonst ist Beauty sofort zum Spiel bereit. Ich schaue nun demonstrativ an ihr vorbei und drehe mich von ihr weg. Dabei gehe ich seitwärts auf Beauty zu, schaue aber Maik die ganze Zeit an. Beauty macht einen weiteren Schritt rückwärts.
Auf Maiks Rat hin, wackele ich mit dem Hintern und nähere mich Beauty langsam weiter. Jetzt bleibt Beauty an ihrem Platz. Auch knurrt sie nun nicht mehr. Ich schaue wieder zu Maik hoch. Er nickt mir aufmunternd zu. Also nähere ich mich Beauty noch mehr, bis ich schließlich ganz nah an ihrem Kopf bin.
„Stupse den Ball mit Mund oder Nase nur leicht an! Nicht direkt danach schnappen!” sagt Maik nun.
Ich befolge seinen Rat und Beauty überlässt mir tatsächlich den Ball!
„Stupse ihn jetzt einige Zentimeter weg und mache einen Schritt hinterher – und so weiter. Wenn Beauty hinterherkommt und das Spiel nach diesen Regeln mitmacht, stupst ihr euch den Ball gegenseitig zu,” rät er mir weiter.
Wirklich spielen wir nun abwechselnd mit dem Ball. So geht das eine ganze Weile. Dann fordert Maik Beauty auf SITZ zu machen und gibt ihr ein paar Leckerlies aus der Schale, die für Beauty in meinem Zimmer steht. Beauty setzt sich tatsächlich und schaut ihn erwartungsvoll an.
Ich bin in der Zwischenzeit ein paar Schritte weiter gegangen, den Ball vor mir her stupsend. Nun halte ich an und schaue mich neugierig um. Maik schaut lächelnd zu mir herüber, nimmt ein paar Erdnüsse aus der Dose, kommt auf mich zu und schiebt sie mir in den Mund. Dabei streicht er mir sanft durchs Haar und lobt mich, woraufhin ich mich bei Maik anlehne. Dann erklärt er mir den Ablauf der Situation genauer, damit ich verstehe, wie Beauty die Situation wohl empfunden haben muss.