Mittwoch, 15. Juli 2020
Luna -24-
„Wir haben hier das Glück, eine Artenvielfalt ähnlich der am Amazonas vielleicht zu sehen – wenn wir darauf achten. Wir sehen also ganze Nahrungsketten von Insekten über Fische und Nagetiere bis zu Vögeln. Pflanzen- und Fleischfresser, Sammler und Jäger,“ erklärt er mir, „Das dort ist ein Raubvogel.“
Während er das sagt, legt der Vogel die Flügel an und stürzt aus der Luft auf etwas am Boden hinter dem Schilf herab. Da setzt sich eine handtellergroße Libelle mit metallischblauen Flügeln und grünlich schimmerndem Leib auf das Kabinendach vor uns. Nach wenigen Sekunden hebt sie aber wieder ab, umschwirrt mich und verschwindet wieder seitlich im Schilf.
Kurz darauf treten die Ufer wieder weiter auseinander. Wir fahren weiter rückwärts, bis wir die von Bojen gekennzeichnete Fahrrinne im See erreicht haben. Hier dreht Maik die Escargot in Fahrtrichtung und wir fahren etwas schneller weiter in das Naturschutzgebiet hinein.
Nach einiger Zeit erkenne ich ein Dach über dem Schilf. Als der Uferbewuchs zurückgeht sehe ich, dass das Dach zu einem Haus gehört mit Terrasse, auf der mehrere Tische und Stühle stehen und einem Bootsanleger.
„Das ist das ‚Haus am See‘,“ sagt Maik. „Warst du schon einmal da?“
Ich schüttele den Kopf. Alles, was ich während der Bootsfahrt mit Maik gesehen habe, ist interessant und neu für mich. Papa ist mit uns oft in Freizeitparks gefahren, aber das hier ist nicht so laut und jahrmarktähnlich.
Maik lässt die Escargot antriebslos auf den Steg zu treiben. Er steuert nur, damit unser Boot in einem guten Winkel eine freie Anlegestelle trifft. Kurz vorher tritt er rückwärts in die Pedale. Wir werden langsamer. Dann nimmt er das Tau in die Hand, das die ganze Zeit neben dem Boot gehangen hat und läuft nach vorne. Er hängt es ein, zieht das Boot an den Steg und macht das Tau enger fest. Dann hält er das Boot am Handlauf fest und zieht es an den Steg heran.
Hinten bei mir angekommen sagt er zu mir:
„Gib mir bitte das Tau, das da zwischen den Sitzen liegt – am Auge bitte!“
Ich habe inzwischen erfahren, dass er damit die Schlaufe an einem Ende meint. Er hängt sie an einem Poller ein und steigt an Bord. Das andere Ende des Taus macht er an Bord fest. Danach geht er über das Gangbord nach vorne und löst meinen Rolli vom Kabinendach. Er klappt ihn auf und arretiert ihn. Nun schiebt er ihn neben das Achterdeck auf dem Steg und fordert mich auf:
„Komm, setz dich!“
Dabei nickt er mir beruhigend zu. Ich setze einen Fuß auf das Gangbord neben dem Achterdeck und er hält mich fest. Mit zwei Schritten bin ich auf dem Steg und setze mich in meinen Rolli. Maik beginnt nun, ihn in Richtung des Restaurants zu schieben. Dort nimmt er einen freien Tisch in Beschlag. Er schiebt die Stühle zusammen, so dass ich mit dem Rolli an den Tisch komme, dann setzt er sich neben mich. Die Leute von den Nachbartischen schauen kurz herüber. Maik nimmt die Speisekarte und überfliegt sie. Dann reicht er sie mir.
„Magst du eine Pizza? Oder vielleicht eine Gyrosvariation? Oder was schmeckt dir?“ fragt er mich.
„Pizza Tonno Speziale lese ich hier,“ antworte ich und zeige auf die Karte. „Das ist eine mit Thunfisch auf Spinat.“
„Oh,“ lacht er mich an. „Du hattest mir mal erzählt, dass du als Baby eine Krankenschwester bespuckt hast, weil sie dich mit Spinat gefüttert hatte.“
Ich muss jetzt auch lachen.
„Ja… Das ist aber schon lange her…“
Inzwischen hat sich ein Kellner genähert und wartet ein Schritt hinter uns mit Block und Bleistift in den Händen. Maik wendet sich zu ihm um und sagt:
„Zwei Cola, bitte! Und eine Pizza Tonno Speziale, sowie einmal Gyros komplett für mich.“
Der Kellner notiert sich die Bestellung und wendet sich dem Nachbartisch zu. Nachdem er an allen Tischen mit Neuankömmlingen die Bestellungen aufgenommen hat, betritt er das Restaurant. Wenig später bringt er uns die Getränke.
Maik tastet sich mit der Hand zu meiner vor und umschließt sie. Ich wende meinen Blick vom See ab und schaue ihn an.
„Magst du in den Herbstferien mit mir nach Süddeutschland fahren?“ fragt er mich nun, „ein wenig in der Hundeschule meines Onkels zuschauen und die Herbstkirmes besuchen?“
Oh, er plant schon die nächste Freizeit, obwohl noch zweieinhalb Monate vergehen, bis dahin!
„Gerne,“ bestätige ich lächelnd.
Wir essen und Maik schiebt meinen Rolli mit mir zur Escargot zurück. Als er mich auf einen der Sitze auf dem Achterdeck gehoben hat und gerade den Rolli auf dem Kabinendach festzuschnallen will, sage ich zu ihm:
„Hilfst du mir gleich hinunter in die Kabine? Ich bin so pappsatt! Ich würde mich gerne etwas hinlegen wollen…“
„Okayyy,“ gibt er zurück.
Schnell hat er den Rolli befestigt und kommt über das Gangbord zu mir auf das Achterdeck. Er schiebt den Niedergang auf, öffnet die niedrige Tür und geht die drei Stufen nach unten in die Kombüse. Dort dreht er sich um und sagt:
„Kannst du kommen? Ich sichere dich!“
Ihm zunickend drücke ich mich aus dem Sitz hoch und mache einen Schritt auf ihn zu. Da neigt sich das Deck etwas, wegen der Welle eines benachbarten Bootes, das gerade ablegt. Dadurch komme ich aus dem Gleichgewicht und strauchele. Fast theatralisch klappe ich zusammen und falle auf die Seite.
Mit einem Sprung ist Maik wieder oben auf dem Achterdeck und bei mir.
„Geht’s?“ fragt er mich. „Hast du dir irgendwo weh getan?“
Er hockt sich neben mich hin und nimmt mich auf die Arme. Ich schüttele den Kopf.
„Ist alles nochmal gut gegangen!“ sage ich.
„Das ist so eine Situation bei der du auch über Bord hättest gehen können, wenn du woanders gestanden hättest. Du musst an Bord IMMER die Schwimmweste tragen!“ sagt er betont.
Dann zieht er mich vor den Niedergang, geht erst selbst hinunter in die Kombüse und hebt mich dann in die Kabine hinein. Drinnen setzt er mich auf die Sitzbank der Essgruppe, aber ich rutsche herunter und laufe auf allen Vieren nach vorne in den Salon, wo ich mich auf die Liegefläche lege und nach ihm schaue. Er hat den Deckel des Niedergangs in der Zwischenzeit zugezogen und die Tür geschlossen.



Luna -23-
„Als Owner kümmere ich mich um mein Doggie. Ich achte und schätze mein Doggie. Ich führe dich verantwortungsbewusst so, dass stets alles Überschaubare in Ordnung bleibt. Gegen Unvorhergesehenes gehe ich an, um es wieder in Ordnung zu bringen! Genauso wie ein Vater um das Wohl seiner Familie kämpft. Hier orientiere ich mich also ganz klar am Verhalten meines Vaters.
Eine menschliche Doggie ist wie ein geliebtes Haustier. Hier kannst du Parallelen zu Beauty ziehen. Ein echter Hund liegt gerne zu deinen Füßen, ist hingebungsvoll, treu. Eine Doggie wird meistens –nicht immer- ohne Frage folgen, aus Vertrauen zum Owner. Eine Doggie wird auch an der Leine gehen, ohne zu fragen, wohin…“
Ich schaue gebannt zu Maik auf und lasse die Worte wirken. Er redet nach einer kurzen Atempause weiter:
„Ein Tier, sagt man, ist ein Gefühlsmensch. Ein Tier handelt nach den momentanen Gefühlen. Es lebt in der Gegenwart. Aus der Vergangenheit zieht es Erfahrungen. Die Zukunft existiert noch nicht, warum also planen…
Wenn nun eine Doggie sich ganz auf ihre Gefühle konzentriert, dürfte sie bei intensiven Berührungen fühlen können, was der Andere fühlt. Zum Beispiel beim Kuss: Du fühlst, was in dem Anderen vorgeht, sei es nun Leidenschaft, bloß Freundlichkeit, oder gar Falschheit. Bei einer engen Umarmung kannst du Gleiches spüren.“
Als er das sagt, horche ich in mich hinein und muss ihm Recht geben. Er ist aber noch nicht fertig mit seinen Ausführungen. Also höre ich stumm weiter zu, eng an ihn gekuschelt.
„Ich habe in der letzten Zeit einiges im Internet gelesen und denke, wir sollten im Laufe der Zeit darüber gemeinsam reden,“ beginnt er weiterzusprechen.
„Nur sehr wenige verstehen wirklich, wie tief eine Beziehung mit Machtgefälle ist. Erklärt man es ihnen, schrecken sie zurück, denn Verantwortung fürchten die Meisten, wie der Teufel das Weihwasser!“
„Halt,“ werfe ich dazwischen, „was ist eine ‚Beziehung mit Machtgefälle‘?“
„Grob gesagt: Einer führt und der Andere lässt sich führen. Die meisten Menschen, die unterwürfig sein wollen, können nicht verstehen wie jemand freiwillig so viel geben und dabei glücklich sein kann.
Der Teil des Films eben, als der Owner mit seiner Doggie apportieren spielte, und auch später die Szene am Strand, erregte mich sehr. Das ist grenzenloses Vertrauen! Das wäre mir gleichzeitig unbedingte Verpflichtung und Verantwortung. Da bin ich in keinster Weise egoistisch auf meinen persönlichen Spaß bedacht! Mir geht es ausschließlich um DEIN Wohl. Dem ordne ich alles unter!“
Ich reibe meine Wange sanft an seiner Brust.
„Der Gedanke,“ redet Maik weiter, „dass jemand die volle Kontrolle über einen hat, ist vielen Menschen ziemlich beängstigend. Wenn sie den richtigen Owner finden würden, sehen sie aber sicher, es ist gar nicht so schwer.“
„Moment,“ begehre ich auf. „Die volle Kontrolle an jemand abgeben, den man nicht wirklich kennt…“
„Richtig, Liebes,“ antwortet er mir. „Das ist der Knackpunkt: ‚den man nicht wirklich kennt‘. Welchen Menschen kennt man durch und durch? Aber die Menschen warten auch nicht, bis sie ihr Gegenüber ausreichend gut kennen. Sie stürzen sich lieber in Abenteuer…
Nein, du sollst deine Selbstverantwortung nie ganz aufgeben und nur schrittweise in dem Maße, indem das Vertrauen wächst. Merke dir: Vertrauen ist eine steile Leiter mit sehr vielen Stufen. Es dauert lange, sie zu erklimmen, und man kann unterwegs auch schonmal abrutschen, je nachdem wie der Gegenüber sich verhält!
Als ich mir den Film –allein in meinem Zimmer- zum ersten Mal angesehen habe, musste ich lange darüber nachdenken, denn ich sah dich vor meinem inneren Auge. Wie lebt es sich mit einem menschlichen Hund an meiner Seite? Ein echter Hund –wie zum Beispiel Beauty- hat keine Wünsche an das Leben, außer den elementaren, wie zufrieden zu leben und Zuwendung zu erhalten. Er braucht sich um nichts kümmern. Doggie wie der echte Hund ist gehorsam und sehr gelehrig. Doggie wie der echte Hund will nicht bestimmen. Doggie wie der echte Hund hat manchmal Fragen im Kopf, macht sich über etwas Sorgen, aber der Owner kümmert sich darum und zerstreut die Sorgen.“
„Machst du dich damit nicht zum Übermenschen?“ muss ich jetzt aber doch dazwischenwerfen.
„Warum?“ fragt er zurück.
Er wirkt einen Moment lang etwas konsterniert und rückt von mir ab. Dann sagt er:
„Die Menschen heute sind sehr Ich-fixiert. Sie streben nach dem eigenen Erfolg, eigenen Reichtum, eigenen Glück. Dafür können manche sogar ‚über Leichen‘ gehen. Mein Lebenslauf hat mir gezeigt, wie man sich dabei fühlt, wenn man von solchen Leuten an den Rand gedrückt wird. Das hat mich geprägt. Ich finde mein Glück, wenn ich in die glücklichen Augen meines Gegenübers blicken kann!“
„Entschuldige,“ sage ich leise.
Maik zieht mich wieder näher an sich heran. Ich schaue ihm verliebt in die Augen.
Draußen ist es inzwischen dunkel geworden. Maik beginnt die blickdichten Gardinen zuzuziehen. Ich knie mich hin und helfe ihm. Dann breitet er das Bettzeug auf der Liegefläche aus. Erst eine Seite, dann wechseln wir darauf und machen die andere Seite der Liegefläche fertig zum Schlafen. Schließlich schlafe ich, eng an ihn gekuschelt selig ein.
Am nächsten Morgen wache ich durch den Duft frischer Brötchen auf. Maik steht schon in der Kombüse und hat Tiefkühl-Brötchen in den Backofen geschoben. Wenig später schon kommt er mit einem Tablett in den Salon und wir frühstücken im Bett. Ist das himmlisch!
Nachdem wir gefrühstückt haben, bringt er das Tablett wieder in die Kombüse und ich verschwinde in der Nasszelle. Als ich daraus hervorkomme, hat er den Salon auch soweit aufgeräumt, dass nur noch die gepolsterte Liegefläche ausgebreitet ist, damit ich einfach auf allen Vieren zwischen Achterdeck und Sonnendeck hin und her wechseln kann.
Dann holt er beide Anker hoch und wir radeln das Boot langsam rückwärts aus dem Nebenarm heraus. Dabei fallen mir die vielen Vogelstimmen auf und plötzlich sehe ich seitlich über mir einen größeren Vogel flügelschlagend in der Luft stehen. Ich mache Maik darauf aufmerksam.