Luna -24-
„Wir haben hier das Glück, eine Artenvielfalt ähnlich der am Amazonas vielleicht zu sehen – wenn wir darauf achten. Wir sehen also ganze Nahrungsketten von Insekten über Fische und Nagetiere bis zu Vögeln. Pflanzen- und Fleischfresser, Sammler und Jäger,“ erklärt er mir, „Das dort ist ein Raubvogel.“
Während er das sagt, legt der Vogel die Flügel an und stürzt aus der Luft auf etwas am Boden hinter dem Schilf herab. Da setzt sich eine handtellergroße Libelle mit metallischblauen Flügeln und grünlich schimmerndem Leib auf das Kabinendach vor uns. Nach wenigen Sekunden hebt sie aber wieder ab, umschwirrt mich und verschwindet wieder seitlich im Schilf.
Kurz darauf treten die Ufer wieder weiter auseinander. Wir fahren weiter rückwärts, bis wir die von Bojen gekennzeichnete Fahrrinne im See erreicht haben. Hier dreht Maik die Escargot in Fahrtrichtung und wir fahren etwas schneller weiter in das Naturschutzgebiet hinein.
Nach einiger Zeit erkenne ich ein Dach über dem Schilf. Als der Uferbewuchs zurückgeht sehe ich, dass das Dach zu einem Haus gehört mit Terrasse, auf der mehrere Tische und Stühle stehen und einem Bootsanleger.
„Das ist das ‚Haus am See‘,“ sagt Maik. „Warst du schon einmal da?“
Ich schüttele den Kopf. Alles, was ich während der Bootsfahrt mit Maik gesehen habe, ist interessant und neu für mich. Papa ist mit uns oft in Freizeitparks gefahren, aber das hier ist nicht so laut und jahrmarktähnlich.
Maik lässt die Escargot antriebslos auf den Steg zu treiben. Er steuert nur, damit unser Boot in einem guten Winkel eine freie Anlegestelle trifft. Kurz vorher tritt er rückwärts in die Pedale. Wir werden langsamer. Dann nimmt er das Tau in die Hand, das die ganze Zeit neben dem Boot gehangen hat und läuft nach vorne. Er hängt es ein, zieht das Boot an den Steg und macht das Tau enger fest. Dann hält er das Boot am Handlauf fest und zieht es an den Steg heran.
Hinten bei mir angekommen sagt er zu mir:
„Gib mir bitte das Tau, das da zwischen den Sitzen liegt – am Auge bitte!“
Ich habe inzwischen erfahren, dass er damit die Schlaufe an einem Ende meint. Er hängt sie an einem Poller ein und steigt an Bord. Das andere Ende des Taus macht er an Bord fest. Danach geht er über das Gangbord nach vorne und löst meinen Rolli vom Kabinendach. Er klappt ihn auf und arretiert ihn. Nun schiebt er ihn neben das Achterdeck auf dem Steg und fordert mich auf:
„Komm, setz dich!“
Dabei nickt er mir beruhigend zu. Ich setze einen Fuß auf das Gangbord neben dem Achterdeck und er hält mich fest. Mit zwei Schritten bin ich auf dem Steg und setze mich in meinen Rolli. Maik beginnt nun, ihn in Richtung des Restaurants zu schieben. Dort nimmt er einen freien Tisch in Beschlag. Er schiebt die Stühle zusammen, so dass ich mit dem Rolli an den Tisch komme, dann setzt er sich neben mich. Die Leute von den Nachbartischen schauen kurz herüber. Maik nimmt die Speisekarte und überfliegt sie. Dann reicht er sie mir.
„Magst du eine Pizza? Oder vielleicht eine Gyrosvariation? Oder was schmeckt dir?“ fragt er mich.
„Pizza Tonno Speziale lese ich hier,“ antworte ich und zeige auf die Karte. „Das ist eine mit Thunfisch auf Spinat.“
„Oh,“ lacht er mich an. „Du hattest mir mal erzählt, dass du als Baby eine Krankenschwester bespuckt hast, weil sie dich mit Spinat gefüttert hatte.“
Ich muss jetzt auch lachen.
„Ja… Das ist aber schon lange her…“
Inzwischen hat sich ein Kellner genähert und wartet ein Schritt hinter uns mit Block und Bleistift in den Händen. Maik wendet sich zu ihm um und sagt:
„Zwei Cola, bitte! Und eine Pizza Tonno Speziale, sowie einmal Gyros komplett für mich.“
Der Kellner notiert sich die Bestellung und wendet sich dem Nachbartisch zu. Nachdem er an allen Tischen mit Neuankömmlingen die Bestellungen aufgenommen hat, betritt er das Restaurant. Wenig später bringt er uns die Getränke.
Maik tastet sich mit der Hand zu meiner vor und umschließt sie. Ich wende meinen Blick vom See ab und schaue ihn an.
„Magst du in den Herbstferien mit mir nach Süddeutschland fahren?“ fragt er mich nun, „ein wenig in der Hundeschule meines Onkels zuschauen und die Herbstkirmes besuchen?“
Oh, er plant schon die nächste Freizeit, obwohl noch zweieinhalb Monate vergehen, bis dahin!
„Gerne,“ bestätige ich lächelnd.
Wir essen und Maik schiebt meinen Rolli mit mir zur Escargot zurück. Als er mich auf einen der Sitze auf dem Achterdeck gehoben hat und gerade den Rolli auf dem Kabinendach festzuschnallen will, sage ich zu ihm:
„Hilfst du mir gleich hinunter in die Kabine? Ich bin so pappsatt! Ich würde mich gerne etwas hinlegen wollen…“
„Okayyy,“ gibt er zurück.
Schnell hat er den Rolli befestigt und kommt über das Gangbord zu mir auf das Achterdeck. Er schiebt den Niedergang auf, öffnet die niedrige Tür und geht die drei Stufen nach unten in die Kombüse. Dort dreht er sich um und sagt:
„Kannst du kommen? Ich sichere dich!“
Ihm zunickend drücke ich mich aus dem Sitz hoch und mache einen Schritt auf ihn zu. Da neigt sich das Deck etwas, wegen der Welle eines benachbarten Bootes, das gerade ablegt. Dadurch komme ich aus dem Gleichgewicht und strauchele. Fast theatralisch klappe ich zusammen und falle auf die Seite.
Mit einem Sprung ist Maik wieder oben auf dem Achterdeck und bei mir.
„Geht’s?“ fragt er mich. „Hast du dir irgendwo weh getan?“
Er hockt sich neben mich hin und nimmt mich auf die Arme. Ich schüttele den Kopf.
„Ist alles nochmal gut gegangen!“ sage ich.
„Das ist so eine Situation bei der du auch über Bord hättest gehen können, wenn du woanders gestanden hättest. Du musst an Bord IMMER die Schwimmweste tragen!“ sagt er betont.
Dann zieht er mich vor den Niedergang, geht erst selbst hinunter in die Kombüse und hebt mich dann in die Kabine hinein. Drinnen setzt er mich auf die Sitzbank der Essgruppe, aber ich rutsche herunter und laufe auf allen Vieren nach vorne in den Salon, wo ich mich auf die Liegefläche lege und nach ihm schaue. Er hat den Deckel des Niedergangs in der Zwischenzeit zugezogen und die Tür geschlossen.