Luna -32-
Danach fordert Maik Beauty auf, das Spiel fortzusetzen. Es folgt ein Gerangel um den Ball. Beauty wedelt aufgeregt mit dem Schwanz und versucht, mir den Ball abzunehmen. Ich stoße ihn spontan in eine Zimmerecke. Beauty folgt dem Ball. Als ich Beauty erreicht habe, beginnt sie zu knurren. Erschrocken weiche ich etwas zurück und schaue zu Maik auf.
„Beauty knurrt, hat aber ihre Zähne nicht gefletscht, wie du siehst. Sie droht dir also momentan nicht,“ erklärt er mir. „Es ist vielmehr ein spielerischer Kampf um das Vorrecht am Ball, in dieser konkreten Situation. Gleichzeitig geht es darum, wer von euch beiden die ‘Erste’ ist. Schau!”
Beauty hat den Ball voll für sich beansprucht. Sie steht über ihm, so dass er sich unter ihrem Bauch befindet, und schaut zu mir, ohne mich direkt anzusehen.
„Geh langsam seitwärts auf Beauty zu,” rät mir Maik jetzt. „Sie wird bei Unterschreiten einer gewissen Entfernung wieder zu knurren beginnen. Mach du das dann auch. Seid ihr dann quasi auf Tuchfühlung, dann leg deine Wange beim Knurren ruhig an ihre! Denk daran: wer zuerst aufhört, hat verloren. Derjenige muss immer hinter dem Anderen bleiben und bekommt auch immer zuletzt sein Futter.”
Ich kräusele die Stirn und schaue Maik skeptisch an. Dann versuche zu knurren, was mir aber kläglich misslingt. Mit Maiks Hilfe bekomme dann doch ich so etwas ähnliches zustande. Ich nähere mich Beauty langsam mit tiefgestelltem Kopf seitwärts und ohne sie direkt anzuschauen.
Beauty weicht mitsamt Ball langsam weiter zurück, um den Abstand zu wahren. Aber ich bin hartnäckig. Nach zwei Metern bleibt Beauty schließlich stehen und beginnt zu knurren. Ihre Zähne hält sie bedeckt. Ich probiere es nun auch, während ich mich immer noch seitwärts nähere. Beauty lässt mich näher an sich heran, ohne den Ball aufzugeben. Dann entfernt sie sich eine Schulterbreit vom Ball. Es hat den Anschein, als gibt sie ihn frei.
Das verunsichert mich etwas und ich schaue zu Maik auf. Der nickt mir lächelnd zu, also nähere ich mich Beauty knurrend weiter. Sie knurrt ebenso und reckt dabei die Schnauze gen Himmel. Als ich Beauty erreiche, berühre ich sie zaghaft an der Schulter. Dann lege ich meine Wange an Beautys und schaue ebenfalls zur Zimmerdecke hoch beim Knurren.
Nach einer Weile gibt Beauty auf und dreht sich auf den Rücken.
„Nun streichele Beauty sanft,” sagt Maik, der nahe an uns herangetreten ist.
Ich tue es und Maik erklärt:
„Dieses Auf-den-Rücken-drehen ist die Unterwürfigkeitsgeste. Beauty hat aufgegeben und akzeptiert, dass du die Erste von euch Beiden bist.”

*

In den folgenden Wochen werde ich mit Maiks Hilfe immer aufmerksamer für Beautys Gestik und Mimik. Ich lerne ihre Bedeutung im Zusammenhang mit der aktuellen Situation erfassen und ertappe mich dabei, dass ich Beauty auf ähnliche Weise antworte. Mama sagt eines Abends zu Papa:
„Beauty und Andrea sind ein Herz und eine Seele. Sie verstehen sich blind. Das wird ein großer Schock für Andrea, wenn Beauty einmal nicht mehr ist.“
„Nuuuun,“ dehnt Papa die Antwort. „Beide haben ja schon eine Menge miteinander erlebt! Beauty ist Andreas große Beschützerin. Sicher, Beauty ist inzwischen eine Greisin. Ich bin mir aber sicher, dass Andrea versteht, dass Beauty nicht ewig lebt.“
In dem Moment wird die Tür des Wohnzimmers geschlossen und ich kann der weiteren Unterhaltung nicht mehr folgen. Sicher, Mama und Papa haben Beauty in der letzten Zeit immer öfter zum Tierarzt bringen müssen. Sie ist ja auch ein weiblicher Methusalem, mit ihren inzwischen fast 17 Jahren. Ich bin gespannt, ob Mama und Papa sich eine andere junge Hündin ins Haus holen oder erst einmal ohne Hund leben wollen.
Bei Maiks nächstem Besuch erzähle ich ihm von dem Bruchstück des Gesprächs, das ich mitbekommen habe. Er nimmt mich in den Arm und fragt:
„Bekommt Beauty regelmäßig Medikamente?“
„Ja, seit dem letzten Tierarztbesuch,“ antworte ich ihm.
„Da Beauty inzwischen so alt ist, könnten es Schmerzmittel sein, die Altersgebrechen erträglicher machen. Verabschiede dich am besten in Gedanken allmählich von deiner guten Freundin und Beschützerin. Es könnte sein, dass sie eines Morgens nicht mehr aufwacht, dass sie am Vorabend friedlich eingeschlafen ist…“
Ich schaue zu Maik auf, der mich liebevoll anblickt. Also umfasse ich seinen Brustkorb und kuschele mich stumm bei ihm an. Wir genießen beide den intimen Moment. Dann sage ich leise:
„Du hast mich die Hundekommandos gelehrt und seit unserem Urlaub bei deinem Onkel in Süddeutschland auch die ‚nonverbale Kommunikation‘ der Hunde. Ich habe erlebt, dass ich mich seitdem mehr und mehr mit Beauty unterhalten kann. Das erzeugt ein ambivalentes Gefühl in mir - Furcht und die Faszination gleichzeitig…”
Maik setzt sich auf, dreht sich zu mir und nimmt meinen Kopf in beide Hände, während er mir in die Augen schaut. Er fragt:
„Kannst du mir das näher beschreiben, Andrea?”
„Eine Hündin fühlt sich bei ihrem Herrn geborgen und sicher. Du hast mich gelehrt wie eine Hündin zu denken. Ich weiß auch, dass ich dir vollkommen vertrauen kann. Viele Frauen macht es sicher skeptisch! Ich könnte mit meinen Eltern oder Großeltern ganz bestimmt nicht offen über meine Gefühle reden. Du bist in der Beziehung der einzige Mensch, dem ich mich so öffnen kann.“