Luna -06-
In dem Moment geht eine Veränderung mit Lars vor. Was die Jungs reden, daran kann ich mich nicht mehr erinnern, aber es ist sehr derb. Mit einem schnellen Ruck hat einer der Jungs den Klettverschluss gelöst und geht mir an die Hose. Lars hält mich an den Schultern. Ich gerate in eine Schockstarre.
In diesem Moment höre ich Hundegebell und die Kerle zerren mich zwischen die Büsche. Da ist der Hund auch schon heran. Ich erkenne Beauty, deren gefährlichen Tonfall ich so noch nie gehört habe. Das tiefe Knurren erschreckt auch die Kerle, die die Flucht ergreifen, nicht ohne dass Beauty kurz zuschnappt. Sie bleibt aber bei mir und beginnt nun winselnd zu bellen, als ob sie Hilfe ruft. Beauty leckt mich zwischendurch über Gesicht und Wange, und dann ist auch schon Papa bei mir. Er setzt mich wieder in den Rollstuhl und schiebt mich nachhause zurück.
Den Rest des Nachmittags verbringe ich auf seinem Schoß. Das Ohr an Papas Herz gedrückt ist seit je her mein Lieblingsplatz. Wie es seine Art ist, hält er mich mit starken Armen und sagt kein Wort.
An diesem Tag gehe ich früh schlafen. Beauty legt sich neben mich und lässt mich bei ihr ankuscheln. Papa setzt sich auf die Bettkante und streichelt mir die Wange. Ich habe das Gefühl, dass er wissen will, was heute Nachmittag passiert ist. Also beginne ich stockend, es ihm zu erzählen. Dann wünscht er mir noch eine gute Nacht und lässt die Nachttischlampe brennen, als er ins Wohnzimmer zurückgeht.
Wochen später ziehen wir aus der Stadt auf das Land, was auch einen Schulwechsel bedeutet. Wieder habe ich das Gefühl eine Außenseiterin zu sein, nicht dazu zu gehören. Die Menschen stehen reserviert jedem gegenüber, der irgendwie anders ist als sie. Normalerweise behandeln sie mich wie Luft. Dann kommen in der Pause zwei Jungs auf mich zu und machen sich laut lustig über mich. Sie verspotten mich und lachen mich aus. Ich versuche mich von ihnen zu entfernen, aber sie folgen mir. Schließlich hält einer der Beiden meinen Rollstuhl fest und nun beginnen sie, mich zu beschimpfen.
In diesem Moment steht plötzlich ein Schüler aus der Abschlussklasse da und beschimpft die Jungs, die sich widerwillig trollen. Der Lehrer, der die Pausenaufsicht führt, zerstreut nun die Traube sensationslüsterner Mitschüler und der junge Mann fragt mich:
„Ich bin der Maik. Magst du mit mir dort hinüber…?“
Er zeigt auf die Platten aus Kiesbeton, mit denen ein Hochbeet inmitten des Pausenhofes eingefasst ist. Ich nicke und steuere meinen Rollstuhl dorthin. Er setzt sich auf eine Betonplatte und meint:
„Ich finde es nicht gut, was da eben passiert ist…“
„Ach weißt du,“ versuche ich der Situation die Schärfe zu nehmen, „ich bin solch ein Verhalten gewohnt. Ich bin anders als sie. Damit können die Leute nicht umgehen. In den meisten Fällen ignorieren sie mich einfach. Aber es gibt natürlich überall auch solche…“
„Das zeugt von Unreife und fehlendem elterlichen Einfluss…“
„Meinst du?“
„Da bin ich mir sicher! Darf ich fragen, wie du heißt?“
„Ich bin die Andrea aus der Acht A.“
Gerade ertönt das Pausenzeichen. Wir stehen auf und gehen auf die Glastüren zu, wo das Gedränge immer größer wird. Ich habe den Eindruck, dass die Rempeleien heute weniger sind als bisher.
Drinnen fragt Maik noch: „Sehen wir uns später wieder?“
Ich setze mein gewinnendstes Lächeln auf und antworte ihm: „Gerne!“
Dann trennen sich unsere Wege.
Nach Schulschluss treffe ich ihn an der Anzeigetafel im Eingangsbereich des Schulgebäudes wieder.
„Hi, Andrea,“ spricht er mich lächelnd an. „Hast du ein Handy? Magst mir deine Nummer geben?“
Ich nicke und krame mein Handy aus der Tasche auf meinem Schoß. Dann gebe ich Maik die Nummer. Zum Abschied beugt er sich zu mir herunter und berührt meine Wange ganz sanft mit seiner. Er gibt mir die Hand nachdem er sich wieder aufgerichtet hat und sagt:
„Ich hab dich gern.“
„Ich dich auch, Maik!“ beeile ich mich, ihm zu versichern.
Draußen auf dem Vorplatz der Schule schaut er sich suchend um und fragt:
„Wirst du nicht abgeholt?“
„Warum?“ frage ich zurück. „Ich bin alt genug mich selbständig fortzubewegen.“
Er wird leicht rot und lächelt entschuldigend.
„Darf ich dich dann wenigstens nachhause begleiten?“
„Gern,“ stimme ich zu und so gehen wir den fünfminütigen Fußweg nebeneinander her.
Er erzählt mir, dass er einmal die Woche am Nachmittag im örtlichen Sportverein Handball spielt. Es gibt im Ort auch einen Behinderten-Sportverein, sagt er, und beide Vereine haben vor, in einem halben Jahr ein Benefiz-Turnier zu veranstalten.
„Möchtest du vielleicht daran teilnehmen?“ fragt er.
Wir sind schon in der Nähe meines Zuhauses angekommen. Ich mache ein zweifelndes Gesicht.
„Ich weiß nicht… Außerdem, da hinten wohne ich…“
„Okay,“ antwortet er. „Wir sehen uns!“
Dann verabschiedet er sich von mir und bleibt stehen. Den restlichen Weg rolle ich alleine. In meiner Brust arbeitet es. Maik mag ich jetzt schon sehr. An der Eingangstür des Hauses, indem unsere Wohnung liegt, blicke ich noch einmal zurück. Maik steht immer noch an der Ecke. Ich winke ihm zu und klingele. Während Mama die Eingangstüre aufdrückt, winkt er zurück und überquert die Straße.
Mama kommt mir entgegen und hilft mir hinein.
Am Abend bekomme ich eine Nachricht von Maik mit einem Foto von ihm vor dem Spiegel eines großen Waschraumes. Er trägt ein Trikot und sieht ziemlich verschwitzt aus. Es ist eine Gute-Nacht-Botschaft. Am liebsten würde ich ihn jetzt in meine Arme schließen. Ich wünsche ihm ebenfalls ein Gute Nacht und wunderschöne Träume.