Luna -03-
Sie setzt sich auf und knuddelt ihre Puppe. Ich nehme beide auf meinen Schoß und wiege sie, während ich sie lobe und ihr durchs Haar und über die Wange streich.
In diese Zeit fällt es, dass Birgit mir in den Ohren liegt mit dem Wunsch nach einem Hund. Wir informieren uns und entscheiden uns für einen Border-Collie, weil diese Rasse sehr sozial eingestellt und nebenbei sehr intelligent ist. Über Bekannte finden wir einen Züchter und schauen ihn uns an. Eine seiner Hündinnen ist schwanger. Wir lassen uns vormerken und fahren wieder dorthin, als der Wurf drei Wochen alt ist.
Eine der tapsigen Welpen, ein Weibchen, hat es Birgit angetan. Nachdem das kleine Fellknäuel entwöhnt ist holen wir es zu uns. Es ist inzwischen über zwei Monate alt.
Auch hat sich beruflich bei mir einiges getan. Der Personalsachbearbeiter hat mir einen Einsatz gegeben, bei dem ich dauerhaft zuhause übernachten kann. Das Schiff fährt an sechs Tagen in der Woche morgens von unserer Stadt ab und ist abends spät wieder zurück. Montags bleibt es liegen. An diesem Tag wird es von uns gereinigt und überholt, so dass ich schon nachmittags zuhause sein kann.
In der Folgezeit kann ich beobachten, dass Andrea und ‚Beauty‘, wie wir den Familien-Neuzuwachs genannt haben, eng zusammenhängen. Beauty findet alles interessant, was Andrea macht, und umgekehrt ist es genauso.
Ein Punkt stört mich allerdings: Ich habe den Eindruck, dass Andrea keine Fortschritte mehr machen will beim Laufen lernen. Langsam wächst sie aber aus dem Sportwagen heraus. Einen Rollstuhl möchte ich nicht kaufen müssen. Auf Anraten eines Orthopäden besorge ich einen Hängesitz auf einem Laufband, mit dem wir nun mit viel Geduld und Lob regelmäßig trainieren.
Endlich schafft Andrea die ersten Schritte und kurze Strecken in der Wohnung auf zwei Beinen. Es sieht etwas komisch aus, aber darüber sehe ich hinweg. Der Arzt in der orthopädischen Praxis macht jedoch ein sorgenvolles Gesicht, als er sich ihr Können vorführen lässt.
„Das ist typisch für Kinder mit Hüftluxation,“ sagt er. „Ihre Tochter wird nie richtig gehen können. Um längere Strecken selbständig bewältigen zu können, sollten Sie sich mit einem Rollstuhl für sie anfreunden! Es gibt da besonders schöne Modelle, für die sich besonders Kinder gerne begeistern.“
Ich bin enttäuscht, aber für meine Kleine will ich alles tun. Dazu gehört, dass ich jetzt nicht zeige, wie es in mir aussieht. In wenigen Monaten kommt sie in den Kindergarten und bis dahin soll sie einen ‚Sportwagen‘ in Pink bekommen. Wir schauen uns verschiedene an und entscheiden uns eine Woche nach dem Arzttermin für ein Modell. Zuhause lasse ich sie weiter krabbeln. Wenn wir Ausflüge machen, setze ich sie in ihren Stuhl und schiebe sie damit durch Parks und Einkaufszentren.
Auf den Spielplätzen lasse ich sie selbst fahren, nachdem ich ihr gezeigt habe wie das geht und ihr dafür Fahrradhandschuhe angezogen habe. Die Kinder auf den Spielplätzen akzeptieren Andrea schnell und helfen ihr auch schonmal, wenn sie sich im Sand festgefahren hat.
Als ich das zum ersten Mal gesehen habe, ist mir das Herz in die Hose gerutscht. Ich bin aufgesprungen und zu ihr hingelaufen. Bei ihr angekommen ist sie aber schon wieder auf sicherem Grund gewesen. Ich habe mich bei den Kindern bedankt und sie zu einem Eis eingeladen. Und nachdem einige Eltern zustimmend genickt haben, habe ich zwei Hände voll Eistüten gekauft mit je einem Bällchen.
Nach diesem Erlebnis kaufe ich Andrea einen Fahrradhelm, denn ich kann nicht immer in ihrer Nähe sein und sie beschützen. Dann kommt sie in den Kindergarten. Die Gruppenleiterin integriert sie erfolgreich in die Spielgruppe. Unsere Kleine geht gerne dorthin. Jedoch spielen die Kinder an den Nachmittagen unter sich. Niemand ihrer Spielkameraden aus dem Kindergarten kommt auf die Idee, Andrea außerhalb der Spielstunden im Kindergarten zum Spielen einzuladen. Dafür ist Beauty ihr bester Spielkamerad zuhause.
Zwei Jahre später wird unser Sonnenschein zusammen mit den anderen Kindern ihrer Altersgruppe eingeschult. Die Kinder werden mit den Abgängen anderer Kindergärten gemischt und müssen sich nun neu zurechtfinden.
In ihrer Klasse sind ein paar Hyperaktive, das genaue Gegenteil unserer hochsensiblen Kleinen. Diese Gruppe stresst Andrea derart, dass sie bald nur noch unter Tränen in die Schule geht. Sie braucht viel Zuwendung und nach den Hausaufgaben entspannt sie sich beim Ballspiel mit Beauty.
Unsere Hündin weicht kaum von Andreas Seite und schläft auch in ihrem Zimmer auf ihrem Hundebettchen. An den Wochenenden spazieren wir oft gemeinsam durch den Stadtpark und jagen beide hinter dem mitgenommenen Plastik-Ei her, dass ich werfen muss. Damit Andrea den Ball erreicht, nimmt sie einen zusammen geschobenen Walking-Stick. Stürzt sie um, weil ein Rad ihres Rollstuhls von einem Maulwurfshügel gebremst wird oder in den Eingang einer Nagerhöhle geraten ist, krabbelt sie zu dem Stick, zieht sich daran hoch und richtet mit der freien Hand den superleichten Rollstuhl wieder auf. Die Bänder, die sie im Sitz halten, werden mit Klettband geschlossen und sind so mit einem Ruck wieder offen.
Mehr als einmal sind Passanten hinzu gelaufen, um ihr wieder auf zu helfen. Wir lassen es geschehen und bedanken uns jedesmal höflich. Anfangs muss ich Beauty immer wieder abrufen, die sich schützend zwischen Andrea und die Leute stellt. Jedesmal muss ich dann den Leuten das ungewöhnliche Gespann erklären und dass Andrea nicht völlig hilflos ist.
In der weiterführenden Schule hat sie zum Glück niemanden in ihrer Klasse, die sie aufgrund ihrer Behinderung und ihres Wesens verspotten, aber auch hier ist sie die Außenseiterin.
In der beginnenden Pubertät entwickelt sie zarte Gefühle für einen Jungen aus ihrer Klasse, der sie nicht beachtet. Der Junge hat nur Fußball im Kopf und seine Kumpels. Als dadurch wieder einmal die Hausaufgaben in einem Meer von Tränen zu versinken drohen, hebe ich mir meine große ‚Kleine‘ auf den Schoß, lasse sie sich an meiner Brust ausweinen und warte.
„Die Jungs sind alle doof!“ platzt es plötzlich aus ihr heraus.
Ich umfasse ihren Kopf, der an meinem Herz horcht und streichele ihre Wange.
Sie dreht den Kopf und schaut mich aus großen rotgeweinten Augen an.
„Der Dennis hat nur Augen für seine Kumpels…“
Ich lächele und drücke ihren Kopf sanft an meine Brust.
„Jungs in deinem Alter sind noch nicht so weit wie ihr Mädels. Lass ihn laufen! Es dauert wohl noch ein paar Jahre bis Dennis sich für dich interessiert. Schau dich ruhig erst einmal bei Jungs um, die ein paar Jahre älter sind als du. Dort gibt es genug, die sich auch nur für Sport interessieren, aber die Chance ist größer, dass darunter einer ist, der sich für dich interessiert…“
Es vergehen zwei Jahre in der ihre Gefühlswelt zwischen ‚himmelhoch jauchzend‘ und ‚zu Tode betrübt‘ schwankt. Immer wieder gerät sie an Jungs, die ihr Gefühle vorspielen, aber nur wissen wollen wie es ist, mit einer ‚Behinderten‘ Sex zu haben. Damit disqualifizieren sie sich jedoch bei Andrea, und unser Mädchen gerät wieder einmal in ein emotionales Loch.