Luna -01-
„Manni, ich glaub‘, ich bin schwanger.“
Als Birgit vor dem Einschlafen wie beiläufig den Satz fallen lässt, bin ich mit einem Mal hellwach. Ich drehe mich zu ihr und sehe, wie sie liebevoll auf mich herabblickt. Einige Jahre haben wir es nun schon probiert. Nie wollte es gelingen. Schließlich haben wir es aufgegeben und uns gesagt, wenn es passiert, dann passiert es eben; wenn nicht dann nicht. Und nun das!
Ich hebe meine Arme ihr entgegen, umfasse zärtlich ihre Schultern und ziehe sie zu mir herab, um ihr einen Kuß zu geben. Das erste, das meine Lippen erreichen, ist ihre Nasenspitze. Dann legen sich meine geöffneten Lippen auf ihre und meine Zungenspitze tastet nach ihrer.

*

Die Untersuchung bei Birgits Frauenärztin bestätigt ihren Verdacht. Ich bin so glücklich. Schlimm empfinde ich in unserer Situation, dass meine berufliche Tätigkeit mir nur erlaubt alle drei Wochen für ein Wochenende zuhause zu sein.
Neun Monate nachdem mich Birgit informiert hat, dass unser größter Wunsch in Erfüllung gegangen ist und ihr Bauch beängstigende Maße angenommen hat, werde ich mitten in der Nacht wach. Bis der Wecker klingelt und ich wieder zur Arbeit muss, vergehen noch vier Stunden. Entsprechend benommen drehe ich mich zu Birgit um, die mich an der Schulter rüttelt.
„Manni, bitte! Manni, bitte wach auf! Wach auf! Ich glaube es kommt…“
Mit einem Sprung bin ich aus dem Bett. An den Schrank gelehnt, versuche ich Sekundenlang mein Gleichgewicht zu finden und die Benommenheit loszuwerden. Schnell bin ich im Bad und habe mir eine Handvoll Wasser ins Gesicht geworfen. Zurück im Schlafzimmer sehe ich Birgit schwer atmend auf der Bettkante sitzen.
Ich ziehe mir schnell Hemd und Hose über den Schlafanzug an und schlüpfe in meine Sandalen, dann helfe ich Birgit in ihren Mantel und Schuhe. Auf mich gestützt geht sie mit verkniffenem Gesicht ins Bad. Dort lasse ich sie auf dem WC hinsetzen und gebe ihr einen feuchten Waschlappen für die notdürftigste Hygiene. Währenddessen verstaue ich ihre Zahnbürste und –creme im Notfallkoffer. Dann geht es langsam zum Auto.
Sobald wir auf der Straße sind beeile ich mich, den Weg zur städtischen Klinik möglichst schonend zurück zu legen. Adrenalin strömt durch meine Adern und lässt mich an jeder roten Ampel schier verzweifeln. Schließlich haben wir es doch noch geschafft. Etwas über eine Stunde nachdem mich Birgit geweckt hat, sind wir in der Aufnahme. Eine erste Untersuchung erfolgt. Der Arzt meint:
„Der Muttermund ist schon etwas offen. Gehen sie mit ihrer Frau noch etwas durch die Gänge.“
Ich seufze, aber beuge mich seinem Rat. Wir beginnen eine langsame Wanderung durch die Klinikgänge. Zwischendurch ruht sich Birgit an den wandhohen Fenstern an den Enden der Gänge aus. Ein paar Minuten schauen wir den Vögeln auf der Wiese vor den Fenstern zu, dann gehen wir zurück und biegen in einen anderen Gang ein. Im stündlichen Abstand untersucht der Arzt Birgit und bis nach Mittag schickt er uns immer wieder auf Wanderschaft.
Am Morgen zu Arbeitsbeginn habe ich auf meiner Arbeitsstelle angerufen und geschildert, dass ich heute nicht zur Arbeit kommen kann. Dort beruhigt man mich und sagt, ich solle mich jetzt erst einmal um uns kümmern.
Gegen 14 Uhr entscheidet der untersuchende Arzt die Geburt einzuleiten. Eine Krankenschwester führt uns in einen Raum und hilft Birgit gemeinsam mit mir, sich auf einer Liege nieder zu lassen. Dann richtet sie den Blick auf mich und sagt:
„Herr Weiler, Sie sollten draußen warten!“
Hm, okay. Ich drücke Birgits Hand und beuge mich zu ihr herunter, um ihr einen Kuss zu geben. Dann versuche ich aufmunternd zu klingen:
„Liebling, ich bleibe draußen an der Tür. Du bist ja in guten Händen. Ich erwarte euch beide bald zu sehen…“
Dann schließt sich die Tür des Vorraums hinter mir.
Für meine Begriffe hat es eine Ewigkeit gedauert, als sich die Tür wieder öffnet. Ich habe mir von einem der Gang-Enden einen Stuhl hierher gebracht. Der Kopf der Krankenschwester kommt hervor und schaut auf mich herab.
„Herr Weiler, Sie dürfen jetzt zu ihrer Frau,“ sagt sie und macht den Weg frei.
Man hat Birgit auf der Liege wieder in den Vorraum geschoben. In ihren Armen hält sie ein Bündel aus einer Frottee-Decke, aus der mich ein kleines Gesicht neugierig anschaut. Mir verschlägt es die Sprache. Ich streichele vorsichtig über die kleine Wange. Eine kleine Hand kommt aus der Decke hervor, umschließt meinen Zeigefinger und führt ihn sich in den Mund. Die Kleine schließt die Augen und beginnt am Finger zu saugen. Ich beuge mich zu Birgit herunter, der man die Erschöpfung deutlich ansieht und küsse ihre Stirn.
Wir werden von der Krankenschwester gestört.
„So, Herr Weiler. Haben Sie sich schon einen Namen für ihre Tochter überlegt?“
„Wir haben uns für Andrea entschieden,“ antworte ich ihr.
Sie sucht einige Buchstabenwürfel aus einer Plastikschale zusammen und fädelt sie auf. Dann erhält unsere Kleine ein Armbändchen mit ihrem Namen. Dann meint die Krankenschwester:
„Wir wollen ihre Frau auf die Wöchnerinnen-Station bringen…“
Ich trete also einen Schritt zurück und mache den Weg frei. Sie schiebt Birgit auf den Gang und durch eine Tür in einen anderen Bereich. Dort auf einem Zimmer gibt sie mir meine Kleine auf den Arm und hilft Birgit in ein freies Bett. Danach bettet sie unsere Kleine in ein Babybettchen und verlässt uns mit der Liege.
Allmählich lässt die Spannung bei mir nach und ich spüre eine große Müdigkeit. Draußen beginnt schon der Abend zu dämmern als ich nachhause fahre, ins Bett falle und wenig später eingeschlafen bin.

*

Inzwischen ist es Sommer geworden und Birgit mit unserer Kleinen zuhause. Ich habe mir eine Känguru-Tragetasche gekauft und trage unsere Kleine bei Spaziergängen darin in der Nähe meines Herzens. Wir halten strikt die Untersuchungstermine ein. Die Urlaubsvertretung unserer Kinderärztin wendet sich an uns mit umwölkter Stirn.
„Ich verstehe nicht, warum das der Frau Doktor nicht schon aufgefallen ist. Ihre Tochter hat Hüftluxation zweiten Grades. Sie sollten sich umgehend um eine Einweisung in eine Kinderklinik bemühen! – Keine Angst, in diesem Alter behandelt, ist ihrer Tochter später nichts mehr anzumerken. Unbehandelt droht ihr ein Leben im Rollstuhl.“