Luna -30-
Dann richtet sich Maik auf und wirft den Knochen ein paar Meter weg. Ich schaue dem fliegenden Knochen hinterher und höre, wie Maik „HOL!“ ruft. Ich mache erst ein paar Schritte auf allen Vieren in die Richtung, in der das Spielzeug liegen muss. Dann richte ich mich auf, laufe auf meinen Hinterbeinen dorthin. Beim Knochen angekommen, bücke ich mich danach, nehme ihn mit der Hand auf und falle auf die Nase.
Sofort ist Maik bei mir. Er hebt mich an und dreht mich um. Dabei stützt er meinen Rücken mit seinem Knie.
„Alles in Ordnung, Liebes?“ fragt er mit besorgter Stimme und gekräuselter Stirn. Er reibt mir sanft mit einem Papiertuch durch’s Gesicht und meint: „Apportieren über weite Distanzen ist nichts für Luna! Dein Handicap verbietet das schnelle Gehen auf zwei Beinen!“
Er nimmt mich auf und trägt mich auf das Strandtuch zurück. Dort setzt er mich vorsichtig ab und befühlt meine Arme und Beine.
„Tut dir auch wirklich nichts weh?“
Ich schüttele den Kopf. Maik holt tief Luft und stößt sie hörbar aus.
„Ich glaube, wir brechen hier ab und machen morgen etwas anderes,“ sagt er nun.
Ich schaue traurig zu ihm auf.
„Warum?“
„Keine Sorge, Andrea. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben! Aber ich brauche etwas Abstand. Wie hätte ich deinen Eltern unter die Augen treten können, wenn du in Gips aus dem Urlaub nachhause kommst?“
Inzwischen hat er sich neben mich auf das Strandtuch gesetzt. Ich umarme ihn und gebe ihm einen Kuss. Er lässt sich langsam zurücksinken und zieht mich damit hinterher. So komme ich auf ihn zu liegen. Wir liebkosen uns noch eine Weile.
Schließlich meint Maik:
„Es ist allmählich Zeit für den Rückweg.“
Er hilft mir in den Rolli und wir wandern langsam zum Abendessen bei Onkel Hans und Tante Katharina. Dann schauen wir oben in seinem Mansarde-Zimmerchen noch etwas Fernsehen und gehen danach schlafen.

*

Am nächsten Tag wandert Maik mit mir zur Bushaltestelle an der Hauptstraße. Als der Bus hält, hilft er mir beim Einsteigen und bezahlt die Tickets beim Fahrer.
„Wann sagst du mir denn, wo wir hinfahren?“ dränge ich ihn zum wiederholten Male, aus dem heutigen Ziel kein solches Geheimnis zu machen. Doch alles was ich bewirke ist ein freundliches Lächeln. Er legt seine Hand auf meine und bittet mich um Geduld.
„Schau dir doch die Landschaft draußen an,“ ist seine einzige Antwort.
Es geht durch mehrere Ortschaften. Dann steigen wir am Kirchplatz eines der Dörfer aus. Maik führt mich eine Straße entlang, weg vom Ortskern. Wir erreichen nach ein paar Minuten ein Restaurant und er führt mich am Gebäude vorbei zu einem Fluss, der diesseits ein befestigtes und gegenüber ein naturbelassenes Ufer hat, ganz so wie im Naturschutzgebiet in der Nähe unseres Heimatortes.
Maik geht mit mir zum Ufer hinunter, wo sich einige Kähne mit Menschen füllen. Es sind ganz flache hölzerne Wasserfahrzeuge mit Sitzbänken in Bodennähe. Maik fragt, ob wir mitfahren dürfen und bezahlt den Fahrpreis.
Dann muss ich aus dem Rolli aufstehen. Einer der Männer stellt ihn zwischen zwei Sitzbänke und zurrt ihn dort fest. Ich halte mich an Maik fest und nähere mich langsam dem Kahn. Dann hebt Maik mich an, trägt mich zu meinem Rolli und setzt mich hinein. Er selbst setzt sich neben mich auf die Sitzbank. Nun sitze ich um zwei Köpfe höher als er.
Die beiden Männer, die sich um die Fahrgäste gekümmert haben, stellen sich nun an den Bug und das Heck des Kahns. Als eine Frau am Ufer das Seil löst, mit dem der Kahn festgemacht war, beginnen die beiden Männer den Kahn im Stehen durch Rudern fortzubewegen. Der Kahn macht dabei eine ungewöhnlich schlängelnde Bewegung.
Ich spüre wie Maiks Hand nach meiner tastet und schaue zu ihm herab. Er lächelt mich aufmunternd an und meint:
„Fällt dir die schlängelnde Fortbewegungsart auf? Das Boot hat kein Steuerruder. Die Ruderer steuern durch die Ruder. Dadurch ergibt sich die eigentümliche Bewegung, die den Booten ihren Namen gegeben hat: Natter. Die Boote sind so flach, damit sie sich hier in den Altrheinarmen überall hinbewegen können. Früher haben die Leute damit gefischt. Heute fahren sie Touristen durch eine weitgehend unberührte Natur.“
„Unberührt?“ hake ich nach.
Maik nickt und antwortet:
„Naja, sagen wir… renaturiert. Die Altrheinarme sind der Natur zurück gegeben worden. Heute liegen die Dörfer hier in einem Naturschutzgebiet. Die Menschen haben strenge Auflagen zu erfüllen.“
Wir lassen die Häuser des Dorfes hinter uns. Die Natur tritt an die Ufer. Bald habe ich das Gefühl, dass wir durch einen Urwald gerudert werden. Der Mann, der hinten rudert, beginnt bald mit seinen Erklärungen. Wir hören stumm seinen Ausführungen zu:
„Sie befinden sich hier in einem typischen Auenwald, der aussieht wie ein wildes Gewässer nach dem Hochwasser, ein Wald der sich scheinbar ungeplant und nicht von Menschen gesteuert verändert. Hier eine neu entstandene Kiesbank, dort ein umgerissener Baum... Solche auentypischen Veränderungen oder gar ‘Wildnis‘ lösen bei vielen Menschen tiefsitzende Ängste aus. Das Naturverständnis vieler Menschen ist leider geprägt von sauber gepflegten Stadtparks. Das aber ist keine echte Natur.
Hier dagegen finden viele Tiere Möglichkeiten für die Aufzucht ihres Nachwuchses, wozu auch eine intakte Nahrungskette gehört. Hier findet man noch Wildkatzen, Eisvogel, Pirol, Graureiher und Kormoran, den Grasfrosch und die Gelbbauchunke, die Ringelnatter, sowie die Prachtlibelle, um nur einige wenige Arten zu benennen. Das Kennzeichen der Auenwälder ist der hohe Totholzanteil, der die Lebensgrundlage für eine artenreiche Pflanzenwelt ist.“
Wir lauschen etwa zwei Stunden den Ausführungen des Mannes. Immer wieder zeigt er uns verschiedene Pflanzen und Tiere. Dann sind wir wieder an der Anlegestelle zurück. Nachdem ich glücklich wieder auf festem Boden bin, schlägt Maik vor, dass wir im Restaurant zu Abend essen. Nach dem Essen ruft er über Handy Onkel Hans an, der uns abholt und nachhause zurückbringt, denn um diese Zeit fährt kein Bus mehr in Richtung des Hofes.