IWIPAPA - Stamm der Mutter Erde - 07
Danach werden wieder Blätter zu Schalen geformt, indem man den Stängel eines Blattes durch das nächste Blatt in Stielnähe sticht bis eine runde Schale entstanden ist. Die Stängel werden auf der Rückseite verflochten, dann kann man auf der Oberseite der Schale Speisen anrichten, die mit den Händen als Besteck gegessen werden.
In der Zwischenzeit werden die Speisen, die großenteils aus unserer Jagdbeute bestehen, hereingebracht und unter allen Anwesenden verteilt. Dazu wird gekochtes Kasawa gereicht, ein dicker Brei aus Tarowurzeln und Bananen, dazu Kokosmilch mit Papayas. Die jungen Männer, die schon ihre Initiation hinter sich haben, haben sie in der Zwischenzeit zubereitet.
„Du kannst Stammesältester werden,“ spricht mich der Kahuna an, der sich in meiner Nähe niedergelassen hat, „wenn du die siebzehn Titel einen nach dem Anderen erlangt hast.“
„Mateo sagte aber, dass man keinen der Titel überspringen darf, und dass dazwischen immer eine gewisse Zeit vergehen muss, gewisse Erfahrungen erlangt werden müssen.“
„Mateo hat seine Initiation ebenfalls gestern erlangt. Ihr steht somit auf gleicher Stufe, obwohl du älter und erfahrener bist als er. Deine nächsten Titel können daher schneller erlangt werden…“ stellt mir der Kahuna nun etwas geheimnisvoll in Aussicht.
„Was muss ich tun?“ frage ich also und schaue ihn erwartungsvoll an.
„Zuerst einmal müssen die Initiationsnarben vollständig verheilen. Dann solltest du an meinem Unterricht weiterhin teilnehmen. Du bist sehr verständig! Und drittens solltest du dir unseren Alltag anschauen und wenn du erkennst, dass wir etwas in deinen Augen einfacher erledigen könnten – mit den hier gegebenen Möglichkeiten -, solltest du dem Kuia deinen Vorschlag unterbreiten. Nimmt der Kuia deinen Vorschlag an, hast du dir damit den jeweils nächsten Titel erkauft.“
„Ah,“ brumme ich und nicke.
Dann hellt sich mein Blick auf und ich schaue dem Kahuna freudig in die Augen.
„Ja, das werde ich machen! Auf diese Weise profitieren wir voneinander.“
*
Ich bin eine der Tamahine, die in der Schule von den Tangata auf das Leben im Wald vorbereitet werden. Der Wald ist unser natürlicher Lebensraum, da wir Geschöpfe des Waldes sind. Zwar werden wir unter der Obhut der Tangata geboren – dafür bin ich ihnen sehr dankbar! -, dann aber werden wir auf das Leben in unserem natürlichen Lebensraum vorbereitet. Wir lernen viel über die Pflanzen und Tiere im Wald. Die Poki tane erzählen und zeigen uns die essbaren Blätter, Stängel, Wurzeln und Früchte. Sie warnen uns vor den giftigen Pflanzen und Tieren, denen wir begegnen. Auch lernen wir wie man Schlafnester in den Bäumen herstellt.
Vor kurzem bin ich morgens aufgewacht und habe erschreckt festgestellt, dass ich in der Nacht geblutet haben muss. Verschämt habe ich es weggewaschen und ich war froh, dass es nach wenigen Tagen aufgehört hat. Ich bin also doch nicht krank.
Einen Monat ist nichts derartiges mehr geschehen, dann hat es wieder geblutet. Der Poki tane, der sich auch um mich kümmert, hat es gesehen. Er hat mich dann beruhigt und gesagt, ich darf mich freuen. Ich darf bald in den Wald.
Nach einem kurzen Ausflug mit sieben weiteren Tamahine, die ebenfalls ihr Leben im Wald beginnen dürfen, hat der Poki tane den Bau der Schlafnester in einem großen Baum beaufsichtigt. Schließlich hat er uns verlassen, weil es allmählich Nacht wird und er schnell in die Schule zurückkehren will. Wir haben uns in die selbstgebauten Nester gekuschelt und sind bald eingeschlafen.
Am nächsten Morgen klettern wir auf den Waldboden hinunter und beginnen unsere Suche nach essbaren Pflanzen und Wasser. Das machen wir anders als die Poki tane, die auf zwei Beinen gehen und sich deshalb meist auf angelegten Wegen durch den Wald bewegen. Zwischen den Bäumen und den herabhängenden Schlingpflanzen müssen sie sich oft genug bücken und an Hindernissen vorbei winden.
Da wir Geschöpfe des Waldes sind bewegen wir uns auf allen Vieren. So kommen wir viel einfacher voran. Dass das die natürliche Fortbewegungsweise für Waldbewohner ist, sehen wir an den Tieren des Waldes, die unsere Brüder und Schwestern sind. Nur zum Klettern auf Bäume richten wir uns auf, um uns dann auf den Ästen bäuchlings voran zu schieben, solange sie uns tragen.
An einem Wasserloch, der von einem Wasserfall aus einem höherliegenden Wasserlauf gespeist wird, waschen wir uns. Dann laufen wir dorthin, wo es heller wird. Wir kommen zu einem Grasstreifen, auf dem vereinzelte Beerenbüsche stehen. Hier legen wir uns hin und lassen uns von der Sonne trocknen.
Als ich wach werde sind wir nicht mehr allein. Zwei Geschöpfe des Waldes, die schon länger im Wald leben – sie sind sicher doppelt so alt wie wir – gehen zwischen uns umher. Eine der Beiden stupst mich an und entfernt sich einen Schritt. Ich setze mich auf.
Sie nähert sich mir wieder, stupst mich noch einmal an und lächelt gewinnend, um dann wieder Abstand zu nehmen. Ich verstehe, dass ich mit ihr kommen soll.
Die Poki tane haben uns von Wahine erzählt. Das sind Geschöpfe des Waldes wie wir. Aber sie haben die Schule vor Jahren schon durchlaufen und leben seitdem im Wald. Die Poki tane haben uns geraten, uns ihnen anzuschließen. Sie würden uns das in der Schule erlernte vorleben. So könnten wir unsere Kenntnisse im täglichen Gebrauch vertiefen.
Ich schaue zu den Tamahine hin, mit denen ich eng befreundet bin. Soll ich sie verlassen und mich einer Wahine anschließen? Dann sehe ich, dass sich eine meiner Freundinnen der anderen Wahine anschließt. Die restlichen Fünf werden sicher auch bald eine Lehrmeisterin finden! Also stehe ich auf und folge der Wahine auf allen Vieren.
*
Viele Monate sind inzwischen vergangen. Die Wahine ist mir eine gute Freundin geworden. Sie zeigt viel Geduld. Ich möchte am liebsten mein ganzes Leben mit ihr verbringen. Meine gleichaltrigen Freundinnen aus der Schulzeit treffe ich auch ab und zu auf unseren Streifzügen. Alle haben sie Lehrmeisterinnen gefunden und sie fühlen sich gut. Das spüre ich ihnen an.
An einem Tag, kurz nach der Mittagszeit, erreichen wir den Felstopf, in den der kleine Wasserfall hineinstürzt. In der Nähe steht ein Baum voller süßer Früchte. Ich klettere als erste hinauf, denn ich kann weiter nach außen auf dünnere Äste kriechen, als meine ältere Freundin. Sie folgt mir und bleibt in der Nähe des Stammes. Dort gibt es zwar weniger Früchte, aber es reicht um ihren Hunger zu stillen. Weiter außen hängen die süßeren Früchte, denn dort kommt die Sonne besser dran.
hrpeter am 05. Dezember 20
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