Nicci (41)
Nach dem Essen holt er eine Faltkarte an den Tisch. Während Bernd abräumt und ich Markus ihm hinterher schicke zum Helfen, entfaltet Peter die Karte auf dem Tisch.
„Wir haben hier nur den Hof mit der Wiese, die nicht einsehbar ist,“ erklärt er mir. „Aber auf der anderen Moselseite in der Eifel, dort wo wir früher gewohnt haben, gibt es ein ausgedehntes Waldgebiet, worin sich kaum ein Mensch blicken lässt. Da hast du Wanderwege, Lichtungen, einen kleinen Fluss…“
„Wie lange dauert es, dorthin zu fahren?“ frage ich.
Was er da erzählt, macht mich neugierig.
„Wir können nicht die Luftlinie nehmen,“ meint er lächelnd. „Wir müssen nach Trier und dann die B51 Richtung Köln nehmen. Im Bitburger Raum finden wir, was du suchst. Das dauert etwa zwei Stunden mit dem Auto. Wenn wir dort sind, beginnt jetzt in der Jahreszeit die Dämmerung und innerhalb einer halben Stunde ist es dunkel. Ich würde dir vorschlagen, dass du vielleicht nächstes Wochenende – oder ein anderes, das dir günstiger erscheint – wiederkommst. Dann fahren wir vormittags los. Zwei Stunden hin, zwei zurück und zwei bis drei Stunden dort – dann nutzen wir das Tageslicht optimal aus!“
Während Peter spricht, nicke ich mehrmals. Ja, sein Vorschlag hört sich besser an.
„Okay,“ sage ich. „Dann machen wir das so! Was können wir heute Nachmittag denn noch unternehmen?“
„Dog-Agility!“ wirft mir Peter entgegen.
„Was?“ frage ich und schaue ihn verständnislos an.
„Wir bauen auf der Wiese einen Parcour auf. Jasi und Nicci zeigen Lena, wie man ihn benutzt – und du bist mit der Kamera dabei, und schießt ein paar Bewegt-Bilder.“
Mein Gesicht hellt sich auf.
„Das hört sich gut an!“ lächele ich.
Gerade kommt Markus zu uns zurück. Peter spricht ihn gleich an:
„Markus, komm! Helf mir mal etwas zusammen zu bauen!“
Markus schaut erstaunt, und Peter verlässt mit einer auffordernden Handbewegung den Wintergarten. Hinter Peter her gehend, erreichen beide kurz darauf das Doppeltor im Anbau. Peter öffnet es und sagt etwas zu Markus. Danach holen beide eine Reihe Gerätschaften heraus. Damit stellen sie am Wintergarten beginnend rot-weiße Hütchen in einer langen Reihe auf. Dann folgen einige Holzböcke, die aus zwei kurzen und einem langen Holz bestehen. Das lange Holz zeigt abwechselnd nach rechts oder links. Schließlich ziehen sie einen Tunnel auseinander und platzieren ihn ganz an Ende der Wiese. Zum Schluss folgen noch ein paar der Böcke. Danach betreten sie den Wintergarten wieder. Bernd ist inzwischen auch wieder bei uns. Schnell gehe ich in das Zimmer, in dem wir vor dem Essen die Bilder geschossen haben, und hole meine Fotoausrüstung heraus.
Als ich gerade den Anbau mit meiner Ausrüstung verlasse, sehe ich Jasi auf allen Vieren an mir vorbeiflitzen. Sie hat die Hütchen-Reihe gerade hinter sich gelassen und setzt über das lange Bein der dreibeinigen Böcke. Dabei scheinen ihre Knie den Boden kaum zu berühren. Wie sie sich genau bewegt, muss ich mir mit der Einzelbild-Funktion später anschauen. Also schalte ich den Video-Modus ein, der zwanzig Bilder pro Sekunde schießt, solange ich den Finger auf dem Auslöser lasse.
In diesem Moment taucht sie am Ende der Wiese in den Stofftunnel hinein. Zwei Minuten später verlässt sie ihn und kommt mir entgegen, indem sie über die restlichen Böcke springt. Die Gelegenheit nehme ich sofort wahr und lichte den Sprung über einen Bock komplett ab. Ich folge Jasi dann in den Wintergarten. Dort frage ich sofort:
„Hey, wie läuft Jasi denn? Nicht auf Händen und Knien?“
Peter lächelt mich an und antwortet:
„Du kennst das doch von den Pferden: Sie haben den Schritt, Trab und Galopp. Das kennen echte Hunde natürlich nicht! Aber ich sage auch nichts dazu, wenn Human Doggies langsam auf Händen und Knien gehen – sozusagen im Schritt-Tempo. Damit halten Human Doggies ohne weiteres mit ihren Herrchen oder Frauchen Schritt.
Wir denken aber, Hunde sind von ihren Vorfahren her Hetzjäger. Sie lieben die schnelle Bewegung. Das schaffen Human Doggies, indem sie sich auf Fäusten und Zehenballen bewegen! Dazu müssen sie natürlich die Knie vom Boden abheben. Das geht auf die Beinmuskulatur und auch die Koordination der Gliedmaßen muss geübt werden: Die Knie sollen nicht dauernd gegen die ‚Vorderbeine‘ stoßen! Dann aber bringen es die Doggies auf beachtliche Geschwindigkeiten, die ihnen im Spiel miteinander ebenso Freude bereitet, wie uns beim Beobachten der Lebensfreude!“
„Hm, und das Springen über Hindernisse?“ setze ich nach.
„Du hast es doch fotografiert!“ stellt Peter fest. „Die ‚Hinterbeine‘ fungieren wie Sprungfedern. Sie werden gestreckt und katapultieren den Körper voraus. Gleichzeitig müssen die ‚Vorderbeine‘ den Körper in die erforderliche Höhe katapultieren. Hinter dem Hindernis fangen die ‚Vorderbeine‘ den Körper ab und die ‚Hinterbeine‘ werden an den Körper herangezogen. Anfangs reißt jede Human Doggie jedes Hindernis. Aber dann, mit dem ersten Erfolg, macht ihr das Springen einen Riesenspaß!“
Ich schaue mir die Sequenz auf dem Monitor meines Fotoapparates an und schalte dann auf den Einzelbild-Modus. Vierzehn Bilder werden nun nacheinander angezeigt.
„Boah…“ entfährt es mir.
Peter nickt und meint:
„Siehst du. Dann gibt es noch etwas: Wenn eine Human Doggie sich vollkommen in ihrer Rolle fallenlassen kann, sie also dem Owner voll vertraut und ins ‚Dogspace‘ abtaucht, wie wir sagen, dann ist es völlig egal wie sie sich bewegt. Sie könnte auf ihre ‚Hinterbeine‘ hochkommen und trotzdem Doggie sein!“
Auf meinen ungläubigen Blick hin schränkt er etwas ein:
„Das geschieht natürlich nur, wenn sie vorher schon voll in ihrer Rolle aufgegangen ist, und nun den Zweibeiner-Gang – oder sollte ich besser sagen –Lauf – braucht, um ein Ziel vor einer anderen Human Doggie zu erreichen.“
„Hmmm,“ brumme ich.
„Okay,“ meint Peter, und zwinkert mir kurz zu.
Dann nimmt er einen abgenutzten Fußball aus einer Ecke des Wintergartens. Die Beulen zeigen an, dass er schon einiges mitgemacht hat und ihm Luft fehlt. Er hält ihn demonstrativ hoch und geht damit auf die Wiese. Jasi und Nicci haben ihn aufmerksam beobachtet und drängen durch die Tür hinter Peter her. Lena schaut von der Tür aus dem Treiben auf der Wiese zu.