IWIPAPA - Stamm der Mutter Erde - 04
„Mateo,“ rede ich eindringlich auf ihn ein. „Das mag ja sein, aber durch Flucht kann man nichts ungeschehen machen! Man muss sich mannhaft dem Schicksal stellen und versuchen, sein Fehlverhalten nicht durch Flucht zu verschlimmern! Du hast mir erzählt, hier in der Mittelwelt stehen Dämonen und Schutzgötter miteinander im Wettstreit. Jetzt sagst du, du hast durch den Tabubruch – wahrscheinlich, weil du mich in den Wald geführt hast – einem Dämon ermöglicht, etwas anzurichten. Das Tier vor uns ist verletzt. Ich kenne die gefährlichen Tiere im Wald nicht. Es könnte sein, dass durch unser Entfernen, das Tier dem Tod geweiht ist. Helfen wir also den Schutzgöttern indem wir das Tier in unsere Obhut nehmen, pflegen und danach wieder gesund in den Wald entlassen.“
„Das Geschöpf hat ein Junges,“ gibt Mateo zu bedenken und weist nach oben, wo das andere Wesen nach der Methode ‚Ich seh‘ dich nicht, dann siehst du mich auch nicht‘ zitternd auf der Stelle verharrt.
„Du meinst, es kann ohne das andere Geschöpf nicht im Wald bestehen? Wir haben es hier mit einem Muttertier und ihrem Jungen zu tun?“
Mateo nickt. Er steht immer noch unter Schock.
„Solange wir hier untätig herumstehen und diskutieren, bewegt sich nichts!“ versuche ich Mateo aufzurütteln. „Wir müssen etwas tun! Gerade, wenn wir schlimmeres verhindern und alles zum Guten wenden wollen; wenn wir Werkzeuge eurer Schutzgötter und nicht der Dämonen sein wollen!“
Entschlossen teile ich die Blätter der Pflanzen vor mir und beuge mich zu dem von mir dort vermuteten Tier hinunter. Erschrocken weiche ich zurück! Mich trifft der ängstliche Blick einer auf ihrer Seite am Boden liegenden Frau. Ihr Bein liegt in einer unnatürlichen Haltung. Ich wende mich zu Mateo um, der mich mit aufgerissenen Augen anstarrt.
„Wie hast du sie eben genannt? Eine Wahine? Ist das in eurer Sprache eine Frau? Und das zitternde Bündel auf dem Ast dort? Ist das auch eine Wahine?“
„Da… Das… Das ist eine Tamahine. Ein Mädchen…“ stammelt er.
„Gib mir dein Messer!“ sage ich in bestimmendem Tonfall. Ich habe erkannt, dass ich die Initiative an mich reißen muss.
Zögernd übergibt er mir die Machete, die er an seiner Seite trägt, und mit der er uns bis hierher den Weg durch die Vegetation gebahnt hat. Ich hacke eine Liane ab und gebe der Frau daraus zu trinken. Dann hacke ich das Holz in der Mitte durch, ziehe mir mein Hemd aus und zerreiße es. Nun schiene ich das Bein der Frau und versuche sie hoch zu ziehen, so dass sie auf mich gestützt stehen kann. Aber sie macht sich schwer.
Ich schaffe es nur, sie in den Vierfüßler-Stand zu bringen. Sie will sich auf allen Vieren entfernen, knickt aber nach einem Schritt schon wieder ein und sitzt schwer atmend vor mir.
„Wir können die Tamahine nicht hier zurücklassen!“ appelliere ich an Mateos Verantwortungsbewusstsein. „Wir dürfen die Beiden nicht trennen! Besonders, wenn beide möglicherweise Mutter und Tochter sind. Hol sie her, dass sie uns begleitet!“
„Begleitet?“ fragt Mateo verstört. „Wohin denn?“
„Nun, die Beiden werden doch irgendwo wohnen. Ihr Mann und Vater wird sich schon Sorgen machen. Außerdem brauchen wir den Heiler!“
Ich gehe in die Hocke und nehme die Frau auf meine Arme. Dann stehe ich auf und wende mich mit der Frau im Arm zu Mateo um.
„Was ist? Hol das Mädchen und führe uns zu der nächsten Ansiedlung!“ weise ich ihn an.
Widerstrebend, fast ängstlich, geht er zu dem Mädchen. Sie spürt die Annäherung und rutscht zum Stamm zurück. Dann will sie hinter dem Stamm zu Boden klettern.
„Schnell!“ rufe ich. „Sonst entwicht sie uns vor lauter Angst!“
Mateo packt zu, als das Mädchen den Boden erreicht. Die Kleine trägt, wie die Frau in meinen Armen, ein Halsband aus geflochtener Rinde. Er hakt seinen Finger dort ein und führt sie so zu mir. Sie bockt und zittert, wirft uns ängstliche Blicke zu.
„Der Wahine schmerzt das rechte Bein. Gebrochen ist nichts. Also wird es vielleicht eine Verstauchung sein. Damit kann sie ein paar Wochen nicht gehen!“ sage ich und folge Mateo, der einen Schritt vor mir geht und mit der Machete uns einen Weg durch die Vegetation bahnt. Das Mädchen hat sich wohl in ihr Schicksal gebeugt, denn sie ist wesentlich ruhiger geworden.
„Sag mal,“ beginne ich nach einer Weile wieder. „Warum geht die Tamahine eigentlich auf Händen und Füßen?“
„Das machen sie seit ihrer Geburt so,“ antwortet Mateo gedämpft, so als dürfe uns niemand hören.
„Ja, sicher,“ gebe ich verständnislos zurück. „Auch ich bin nach der Geburt gekrabbelt. Aber ich habe mich irgendwann im Alter von ungefähr zwei Jahren aufgerichtet.“
Darauf bekomme ich keine Antwort. Stattdessen lichtet sich die dichte Vegetation immer mehr und schließlich stehen wir auf einer Lichtung mit einer Hütte und einem Feld. In der Nähe der Hütte spielen ein paar Poki tane mit Stöcken. Als sie uns sehen, verschwinden sie im Eingang. Wenig später tritt ein Mann aus der Hütte, bewaffnet mit einer Machete. Er tritt uns mit vor der Brust verschränkten Armen entgegen. Ich erkenne in ihm einen der Mitglieder der Stammesversammlung. Wie hier üblich ist er über und über mit Tätowierungen bedeckt.
Plötzlich treten die Jungs, die sich eben in die Hütte zurückgezogen haben, bewaffnet mit Stöcken aus der Tür und bilden einen Halbkreis vor dem Mann. Mit erhobenen Armen stoßen sie die Stöcke wie Lanzen in unsere Richtung und lassen dabei einen dumpfen Gesang hören.
Ich habe einmal gelesen, dass so in etwa eine Begrüßung nach Südsee-Art ausfällt. Jetzt heißt es, nicht mit der Wimper zucken und die Zeremonie über sich ergehen lassen. Mateo, neben mir, hält sich auch tapfer. Für mich ist das Geschehen neu und interessant.
Nach einer Weile stößt der Mann ein kurzes, hartes Wort aus und die Poki tane weichen zurück. Sie senken ihre Stöcke und schauen. Der Mann macht einen Schritt auf mich zu und beginnt zu sprechen. Mateo übersetzt.
„Wo hast du das Geschöpf gefunden?“
„Ich bin einem Wasserlauf gefolgt bis zu einem imposanten Wasserfall. Dort bemerkte ich, dass ein Etwas von einem Baum gesprungen oder gefallen ist. Neugierig geworden entschied ich mich nachzusehen, und entdeckte die Wahine im Unterholz. Sie hat sich den Fuß verstaucht. Also sagte ich zu Mateo, dass wir sie zu jemandem tragen müssen, wo sie die nötige Pflege erhält. Dabei entdeckten wir, dass sich eine Tamahine in ihrer Begleitung befindet. Ich konnte sie nicht alleine lassen, sondern dachte, dass ich sie zusammen mit der Wahine unter meinem Schutz zu jemand bringen muss.“