IWIPAPA - Stamm der Mutter Erde - 05
„Dir ist in der Versammlung verboten worden den Wald zu betreten!“
„Ungewöhnliche Ereignisse erfordern ungewöhnliche Maßnahmen! Die Beiden erschienen mir hilflos und ich kann nicht anders: Ich fühle mich für das Wohl hilfloser Geschöpfe verantwortlich! Zumindest bis ich sie in die Verantwortung eines Anderen übergeben kann.“
„Du bist also der Ansicht, dass ihr Missgeschick für dich ein Übertreten des Verbotes rechtfertigt?“
„Genauso! Die Natur ist unerbittlich. Würde ich sie ihrem Schicksal überlassen, könnte sie sterben. In diesem Fall wäre auch die Tamahine schutzlos.“
„Wenn du nun einen Waran verletzt im Unterholz gefunden hättest?“
„Hätte ich genauso gehandelt!“
„Lege die Wahine ab!“
Ich gehe in die Hocke und lege die Frau vorsichtig auf den Boden. Auch der Mann beugt sich zu ihr und betastet den Unterschenkel. Dann dreht er sich zu den Jungs um und sagt etwas. Wenig später bringt einer der Poki tane ein paar Stäbe aus gespaltenem Bambus herbei und einige kurze Stricke aus Pflanzenfasern. Der Mann fasst zu. Ein Ruck, und die Frau stöhnt auf. Dann beginnt er ihren Unterschenkel zu schienen.
Währenddessen wendet er sich wieder an mich:
„Du bist sehr mutig!“
Ich hebe die Schultern und lächele.
„Du hättest das Geschöpf gegen die Attacke eines Warans oder einer Schlange verteidigt?“
„Ja,“ bestätige ich einfach und nicke mit dem Kopf.
„Auch ein Skorpion hätte dich nicht zum Rückzug bewegt?“
„Ich fühle mich verantwortlich für das Wohl jedes verletzten Geschöpfes!“ sage ich und übernehme damit den Terminus, den er für die Frau zu unseren Füßen verwendet.
Der Mann nickt bedächtig.
„Bring sie ins Fale!“ fordert er mich auf.
Ich fasse die Frau also wieder unter den Knien und Schultern, hebe sie an und stehe vorsichtig auf. Zusammen gehen wir auf die Hütte zu. Am Eingang lässt er mir den Vortritt. Drinnen kann ich minutenlang nichts sehen. Das Fale hat keine Fenster. Die Wände lassen jedoch etwas Licht durch. Ein Wort des Mannes und aus dem Glimmen in einem Steinkreis inmitten der Hütte schlagen kleine Flammen. Jemand hat Brennmaterial nachgelegt.
Er führt mich nach rechts hinüber an die Hüttenwand. Dort kann ich ein kunstvolles Flechtwerk aus biegsamen Zweigen erkennen. Der Hausherr öffnet ein bewegliches Gitter und wendet sich zu mir:
„Lege sie hier ab!“
Also gehe ich mit meiner Last vor dem offenen Gitter wieder in die Hocke und lasse die Frau langsam aus meinen Armen gleiten. Dabei fallen mir dunkle Gestalten auf allen Vieren auf, die sich im Hintergrund an die Hüttenwand drücken. Mateo tritt hinzu und schiebt die Tamahine ebenfalls in das Gehege. Er gibt ihr einen Klaps auf den Hintern und sie läuft zu den Anderen. Die Frau krabbelt auf Händen und Knien vom Eingang weg ins Innere. Dabei erkenne ich, dass die dunklen Gestalten im Inneren des Geheges ebenfalls Frauen und Mädchen sein müssen.
Der Mann bittet mich nun zum Feuer und fordert mich zum Setzen auf. Dann füllt er drei Becher mit Kawa, einer braunen Flüssigkeit, die aus der Kawa-Wurzel gewonnen und vergoren wird, und bietet zwei davon Mateo und mir an. Ich hebe den Becher, bedanke mich und schaue unseren Gastgeber aufmerksam an. Als er den Becher an den Mund setzt, beginne ich auch zu trinken.
Eine Weile sitzen wir uns stumm gegenüber. Die Poki tane sitzen zwischen uns und dem Eingang der Fale und schauen uns aufmerksam zu.
„Dein Reisekanu ist untergegangen…“ beginnt der Mann.
„Ja,“ sage ich einfach, gespannt wie sich die weitere Unterhaltung entwickelt.
„Fischer von dieser Insel haben dich aus dem Meer gefischt…“
„Das ist richtig.“
„Du lernst gerade die polynesische Navigation?“
„Ja.“
„Du willst uns also irgendwann wieder verlassen und zu den Fremden zurückreisen?“
„Das war bisher mein Bestreben.“
„Das bedeutet, daran hat sich durch das heutige Erlebnis etwas geändert?“
„Ich hatte vor, eine lange Reise zu unternehmen. Darüber wollte ich dann einen Bericht schreiben. Damit kann man in meiner Heimat viel Geld verdienen, wovon ich einige Zeit leben kann. Aber ich habe das Gefühl, dass mich diese Insel und ihre Geschöpfe, Pflanzen, Tiere und Menschen, so schnell nicht loslassen.
Ich wäre froh, wenn ich bei und mit euch leben könnte. Wir könnten sicher viel voneinander lernen. Der Umgang mit der Natur hier ist der Gleiche, der mir selbst als Ideal vorschwebt.“
„Um in unseren Stamm aufgenommen zu werden, und damit die gleichen Rechte wie alle zu erlangen, musst du dich als Mann erweisen! Einige meiner Söhne stehen kurz vor ihrem Mannbarkeitsritus. Du wirst dich dem gleichen Ritus unterziehen müssen.“
„Das will ich,“ bestätige ich und schaue mein Gegenüber offen an.
„Du wirst zum Kahuna zurückkehren und dort auf das weitere warten! Bis dahin wirst du bei ihm deine Studien fortsetzen und Stillschweigen bewahren!“
„Das werde ich!“ antworte ich mit fester Stimme.
Mein Gegenüber erhebt sich. Ich nehme an, dass der vorläufige Abschied gekommen ist und stehe ebenfalls auf. Wir gehen zum Eingang des Fale. Mateo folgt uns.
Am Eingang bleibt der Hausherr stehen, gibt mir die rechte Hand und fasst mit der linken meinen Unterarm. Dann dreht er sich um und verschwindet wieder in der Dunkelheit der Hütte.
Mateo sagt: „Komm, wir müssen zum Kanu zurück!“
Also folge ich ihm. Beim Wasserfall lassen wir unser Auslegerkanu wieder zu Wasser und fahren zu der Siedlung am Strand zurück.

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