Nicci (9)
„Du besitzt weder ein verlängertes Rückgrat mit Muskulatur, noch per Muskulatur verstellbare Ohren. Aber es gibt Verhaltensweisen, die eindeutig sagen, was der Hund will. Auch hast du ein großes Repertoire von Gesichtsausdrücken, die deine Gefühle widerspiegeln. All das kannst du nutzen, Nicci. Du sollst einfach deine Gefühle in der Rolle ausleben dürfen – nicht zurückhalten müssen, weil es in Gesellschaft gerade nicht opportun erscheint Gefühle zu zeigen.“
Auf dem Weg zur Haustür lehne ich mich sanft an Peter und er nimmt mich wieder in den Arm. Ich genieße die Nähe. Im Treppenhaus lässt er mich vorgehen und bleibt dicht hinter mir, ganz anders als Mike, mein Ex. Auf einem Treppenabsatz schaue ich Peter in die Augen, nachdem ich eine Stufe des neuen Teilstücks der Treppe genommen habe.
„Läufst du nicht vor, so dass ich Probleme habe, dir hinterher zu kommen?“
Peter lächelt mich wieder so an, dass ich in den Knien schwach werden könnte.
„Nicci, erstens weiß ich nicht, welche der Türen zu deinem Appartement führt. Ich muss mich also deiner Führung anvertrauen. Zum Anderen gehört es sich, dass der Herr hinter der Frau bleibt, um sie vor etwaigem Stolpern zu schützen…“
„Oh,“ ist das Einzige, das ich spontan darauf zu antworten weiß.
Dann stehen wir auch schon vor meiner Wohnungstür und ich schließe auf. Wir treten ein und gehen durch die Garderobe ins Wohnschlafzimmer. Dort drehe ich mich zu Peter um.
„Was muss ich als Doggie anziehen?“ frage ich ihn. „Ein Kostüm habe ich ja nicht.“
„Das brauchst du auch nicht, Nicci. Für spätere Events, wo so etwas allgemein üblich ist, kaufst du dir irgendwann einen Einteiler aus Stoff. Knieschoner, Spezialschuhe und Pfotenhandschuhe vervollständigen dann dein Outfit. Für jetzt bleib einfach angezogen, wie du bist. Ich habe für den Anfang meine alten Knieschoner von einer früheren Arbeitsstelle mitgebracht.“
Er hebt die linke Hand und mir fällt erst jetzt die Tasche auf, die er aus dem Auto mitgenommen hat. Ich habe zum Treffen meine Jogginghose und ein gleichfarbiges bauchfreies Top angezogen. So stehe ich nun vor ihm. Er greift in die Tasche und übergibt mir die Knieschoner und ich drehe sie etwas unentschlossen in der Hand, schaue sie mir dabei genauer an.
„Magst du dich setzen?“ fragt Peter jetzt.
Ich nicke und setze mich auf meine Schlafcouch. Er kniet sich vor mich und fasst eine meiner Fersen. Dann hebt er das Bein sanft an und zieht mir den Knieschoner über. Am Knie zieht er den Klettverschluss fest, und macht gleiches mit dem zweiten Bein. Dann setzt er sich auf seine Fersen und fordert mich auf, die Knieschoner einmal auszuprobieren. Ich rutsche also von der Couch, gehe vor ihm auf die Knie und lasse mich auf alle Viere herunter.
„Sitzen sie gut?“ fragt er und macht einen besorgten Gesichtsausdruck.
Ich mache „Hm“, und bewege mich einen kleinen Schritt hin und her.
„Joah,“ meine ich nun lächelnd.
„Okay,“ meint Peter nun.
Er greift in die Tasche, aus der er die Knieschoner geholt hat und holt einen länglichen Kunststoffgegenstand heraus, der entfernt einem Rugby-Ball ähnelt.
„Will ein Hund spielen, senkt er seinen Oberkörper in Richtung Boden, so dass sein Hintern in die Luft zeigt. Diese sogenannte Spielverbeugung mit Fixieren des Spielzeugs bedeutet ‚Ich mag spielen, bin bereit‘. Die gleiche Spielverbeugung mit abgewandtem Blick bedeutet ‚Ich tu dir nichts! Ich will bloß spielen‘. Beim Spiel streckst du natürlich deine Arme, bzw. ‚Vorderbeine‘ wieder…“
„Ah, das ist so eine Geste aus der ‚nonverbalen Kommunikation‘ von der du gesprochen hast,“ kommentiere ich seinen kleinen Vortrag und probiere die Spielverbeugung aus.
Er gibt dem Ball einen Schubs. Als der Ball meine Hände erreicht, komme ich vorne wieder hoch und stoße ihn mehrmals hintereinander von der rechten zur linken Hand und wieder zurück. Peter sitzt immer noch etwa ein Meter von mir entfernt auf seinen Fersen und schaut mir zu, wie ich sehen kann, als ich kurz aufschaue. Ich werde unsicher, ob ich alles richtig mache. Deshalb stoße ich den Ball in seine Richtung. Er stoppt ihn und wirft ihn etwa zwei Meter neben mich.
Also muss ich mich drehen und laufe auf Händen und Knien zum Ball, um ihm wieder einen Stoß in Richtung Peter zu geben. Er muss sich jetzt recken, um den Ball zu erreichen.
„Wir dürfen beim Ballspielen hier drin nur wenig bis keine Kraft anwenden, damit nichts kaputt geht,“ meint er. „Bis du diese Geste automatisch machst, wird bestimmt noch einige Zeit vergehen. Eine andere Geste ist die ‚Ich muss mal‘-Geste. Dazu gehst du auf allen Vieren zur Toilettentür und hebst eine Vorderpfote, um sie an die Tür zu legen. Dabei schaust du dich nach mir um. Diese Geste kannst du bei vielen Gelegenheiten verwenden – immer wenn du durch eine geschlossene Tür willst, die ich dir öffnen soll.“
„Ah,“ mache ich und krabbele zur Badtür, wo ich meine rechte Faust an das Türblatt lege.
„Ja, genauso!“ meint Peter lächelnd. „Diese Geste entstammt dem Milchtritt der Welpen, womit sie den Milchfluss der mütterlichen Zitzen anregen. Gleiches kommt später noch einmal vor, wenn wir zum Kommandotraining übergehen. Da machst du die gleiche Bewegung beim Kommando ‚GIB PFÖTCHEN‘.“
Ich bin wieder nähergekommen, während er mir die Erklärung gibt und reibe nun meine Wange an seiner. Er nimmt meinen Kopf in seine Hände und drückt mir einen schnellen Kuss auf die Nasenspitze.
„Das Wange-Reiben ist eine spontane Geste der engen Vertrautheit und Zuneigung. Die kannst du gerne immer wieder einmal machen! Ich sagte ja, lass deinen Gefühlen freien Lauf in der Rolle. Du kannst deine komplette Gefühlspalette herauslassen, von Freude bis Trauer, sofort wenn du etwas in deinem Herzen fühlst!“
Ich lasse mich spontan neben Peter auf den Teppich sinken und reibe meinen Rücken leicht an seinem Oberschenkel.
„Einen großen Raum nehmen die sogenannten Beschwichtigungssignale ein,“ redet Peter weiter, während er mir zart über die obenliegende Seite streicht. „Ein Hund verwendet Beschwichtigungssignale, wenn er in einer Situation unsicher ist. Darunter fallen einmal Gähnen, obwohl der Hund nicht müde ist. Es soll Desinteresse ausdrücken.
Dann entweder nur den Blick abwenden, in der Steigerung den Kopf abwenden oder gar den ganzen Körper zur Seite drehen. Es soll das Gegenüber beschwichtigen. So kann es vorkommen, dass ein Hund sich einem anderen vorsichtig seitwärts gehend nähert. Dabei geht er sehr langsam vor, fast wie in Zeitlupe. Oder er erstarrt gar zur Statue für kurze Zeit.
Hebt ein Hund eine Vorderpfote für einen Sekundenbruchteil, bedeutet das ‚freundliches Interesse‘.“
„Das ist aber schon ein ziemlich umfangreiches Repertoire,“ flüstere ich und rekele mich dabei.
Peter lacht kurz auf.
„Das kommt dir jetzt beim Vortrag so vor. Schau mal: Die deutsche Sprache besteht aus einigen hunderttausend Wörtern. Du benutzt sie wie selbstverständlich. Da sagst du auch nicht: das ist aber ein großes Repertoire!
Die Gesten dürften dir bald ‚in Fleisch und Blut‘ übergegangen sein. Vor allem, wenn du gezwungen bist, dich nur über Gestik und Mimik zu verständigen. Nur wenn das nicht ausreicht und ich dir erlaube zu sprechen, sagst du mit Worten, was du mir mitteilen willst. Ich stelle schon fest, wann du mir etwas verbal sagen musst: Dann zeigst du eine drängende Mimik. Und ich wäre ein schlechter Herr, wenn ich dir dann den Mund verbieten würde!“