Luna -10-
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Ich gehe nun regelmäßig zum Training der Behindertensportgruppe. Die Frau, die beim ersten Treffen auf dem Sportplatz meine Fürsprecherin gegenüber dem Trainer gewesen ist, heißt Gabi und ist die Initiatorin des Behindertensports in meiner neuen Heimat. Sie hat dann auch den Kassenwart des örtlichen Sportvereins angerufen, der mir dann den Mitgliedsantrag gegeben hat, den ich Papa zur Unterschrift vorlegen sollte.
Ich fühle mich bei den Leuten wohl und gehe gerne trainieren. Dort bin ich nichts Außergewöhnliches. Das scheint sich auch auf mein Verhalten in der Schule auszuwirken. Ich bin viel selbstsicherer, vertrete meine Meinung und melde mich im Unterricht, wenn ich etwas weiß. Meine Noten werden ebenfalls besser.
Das alles habe ich Maik zu verdanken, der mich nimmt wie ich bin. Maik akzeptiert sogar mein Faible, in das ich mich im Laufe der Zeit geflüchtet habe. Ich habe auf diese Weise eine eigene Phantasiewelt um mich herum aufgebaut, in die ich mich flüchte, sobald ich abschalten will. Nicht nur das! Er übernimmt sogar eine Rolle in dieser Phantasiewelt, um sie für mich runder zu machen. Er ist ja so süß!
An einem der trainingsfreien Wochenenden schlägt er mir vor, einen Spaziergang in Richtung Wald zu unternehmen, den alle hier ‚Busch‘ nennen. Ich freue mich auf ein weiteres Zusammensein mit Maik und sage freudig zu. Mama hat auch nichts dagegen, dass ich Beauty mitnehme.
Gegen zwei Uhr mittags holt Maik mich ab und wir gehen nebeneinander her, überqueren die Hauptstraße und biegen in die Straße ab, die aus der Stadt heraus in Richtung Randkanal und ‚Busch‘ führt. Die Straße ist vom Ortsende an kaum breit genug, um zwei Autos aneinander vorbei zu lassen. Aber das Gelände ist so flach, dass wir ein Fahrzeug schon von weitem sehen und auf den Randstreifen ausweichen können.
Maik hat die Griffe einer Strandtasche über seine Schultern gehängt und hält sie zwischen Rumpf und linkem Arm.
Wir sind schon eine ganze Weile unterwegs. Als wir einem Geländewagen ausweichen, der uns aus dem ‚Busch‘ entgegenkommt, schaue ich zurück und sehe, dass die Häuser der Kleinstadt schon sehr klein geworden sind.
Nachdem das Auto vorbeigefahren ist, gehen wir weiter. Kurz vor einem alleinstehenden Baum mit Doppelkrone überquert Maik die Straße und geht in die Abzweigung hinein. Sie folgt ein kurzes Stück der Straße, führt uns aber auf das niedrigere Niveau der angrenzenden Felder, um an dem Baum in einer 90 Grad Kurve in die Felder zu führen. Anfangs ist der Feldweg durch Kiesaufschüttung etwas holprig, aber das schaffe ich. Am Beginn der Kurve machen mir tiefer werdende Spurrillen von Treckern das Weiterkommen schwer.
Maik hilft mir, indem er meinen Rolli neben dem Feldweg her schiebt. Ich weiß natürlich längst, was sein Ziel ist. Zwischen dem angrenzenden Feld, der höher liegenden Straße und dem Feldweg liegt eine bunte Kräuterwiese. In der Biegung des Feldweges steht der Zwillingsbaum, von dem er mir erzählt hat und darunter stehen zwei Betonplatten, die von mehreren morschen Bohlen verbunden sind. Auf dieser Bank hat sicher seit Jahrzehnten keiner mehr gesessen.
Es ist ein großer Vertrauensbeweis und Nachweis seiner Zuneigung für mich, dass er mit mir diesen für ihn magischen Ort besucht. Er nimmt seine Tasche von der Schulter und nimmt eine dünne Decke heraus, die er auf der Wiese ausbreitet.
Ich lasse Beauty von der Leine. Sie beginne auf der Wiese mit der Nase in Bodennähe zu schnuppern.
„Hier ist also dein Lieblingsplatz,“ bemerke ich lächelnd.
„Ja,“ antwortet er mir. „Hier habe ich oft gelegen und dem Zug der Wolken zugeschaut. Hier kommt in der Regel selten jemand vorbei.“
Maik setzt sich auf die Decke und schaut zu mir.
„Ich habe das Strandtuch extra für dich mitgenommen. Magst du dich zu mir setzen?“ fragt er mich jetzt.
„Gern,“ antworte ich ihm, löse den Klettverschluss meines Gurtes und stehe aus dem Rolli auf.
Ich beuge mich vor und gehe auf alle Viere. Dann krabbele ich lächelnd nach Art der LUNA zu ihm auf die Decke.
Er hat sich auf die Seite gelegt und die Füße ausgestreckt. Ich lege mich neben ihn ebenfalls auf die Seite, jedoch so, dass ich mit dem Rücken zu ihm liege. Dann rutsche ich mit dem Rücken an seine Brust heran.
„BEAUTY, ZU MIR!“ rufe ich nun.
Beauty nähert sich uns und schnuppert an meiner Hand. Ich sage zu ihr „MÜDE!“ und ziehe sie an mich heran. Beauty legt sich kuschelnd dicht an mich, wie sie es auch oft in meinem Zimmer macht. Dann dreht sie den Kopf und beginnt mich abzulecken. Da Hunde ja keine Hände haben, ist diese Geste vergleichbar mit unserem Streicheln. Maik greift über mich hinweg und streichelt Beauty sanft über ihre Brust. Beauty hört auf zu lecken, legt den Kopf auf die Decke ab und schließt die Augen. Sie fühlt sich wohl.
Nach einer Weile zeigt Maik auf verschiedene Wolken am Himmel und sagt:
„Schau mal, die sieht aus wie ein Auto“ oder „…wie Schloss“.
Ich schaue in den blauen Himmel mit seinen weißen Wolken, deren Ränder mal eine scharfe Abgrenzung zum Blau des Himmels bieten, mal faserig ausfransen und versuche nach einer Weile ebenfalls phantasievoll den Wolken Bezeichnungen zu geben.
Nach einer Weile dreht sich Maik auf den Rücken und schaut senkrecht nach oben in den Himmel. Ich spüre die Bewegung und drehe mich kurz darauf ebenfalls um. Neugierig dreht sich Beauty zu uns und hebt den Kopf. Sie schaut uns beide an. Ich drehe mich auf die Seite, ihm zugewandt, und küsse Maik spontan.
„Vielen Dank für den wunderschönen Nachmittag,“ flüstere ich ihm ins Ohr.
Er wendet sich nun mir zu und legt mir seinen Arm um die Schulter.
Spontan drücke ich mich vom Boden hoch auf alle Viere und klettere auf ihn. Dann lecke ich ihm über die Nasenspitze. Ich bin jetzt ganz die LUNA. Er lacht und hebt seine Arme abwehrend. Damit greift er mich an den Schultern und hebt mich soweit an, dass ich ihn nicht mehr mit der Zunge erreiche. Danach setzt sich Maik hin und nimmt mich in seine Arme. Nun beugt er sich zu mir und gibt mir einen langen Kuss, der mich atemlos werden lässt. Ich liege entspannt in seinen Armen.