Die Wölfin 10
Ich beziehe gerade mein Zimmer im Obergeschoß des Haupthauses und verteile einige Accessoires im Raum, um ihn anheimelnd zu gestalten, als die sich Tür mit knarzendem Geräusch öffnet. Es ist Ennie, die Doggie des Hausherrn.
„Bow!“ lässt sie sich vernehmen und lächelt mich an.
Ich gehe zu ihr und lasse mich vor ihr auf alle Viere herab. Es folgt nun eine herzliche Begrüßung nach Hundeart. Dann sage ich:
„Ab heute bin ich hier. Übermorgen muss ich nur noch zur Bank und zum Einwohner-Meldeamt. Dann kann mein Auto bestimmt eingemottet werden. Was macht eigentlich unser Junghund?“
Ennie lacht:
„Rocky ist dieses Wochenende wieder mit seinen Kumpels unterwegs. Einer von ihnen hat Geburtstag und sie wollen im Wäldchen kampieren.“
„Hm, das halte ich für keine gute Idee. Dann haben sie Alkohol dabei und Musik. Das stört die Tiere. Sie flüchten. Hinzu kommt dann noch der Müllberg im Camp…“
„Lass sie doch! Sie sind noch jung!“
Ich bin skeptisch, sage aber weiter nichts dazu. Den Rest des Tages streiche ich Heinz um die Beine und spiele mit Ennie. Nach dem Abendessen und nachdem Heinz die Arbeit in der Küche beendet hat, besuche ich ihn in seinem Zimmer und kuschele mich an ihn, während wir TV schauen. Mein schwarzes Outfit habe ich da schon längst angelegt.
Es ist schon nach elf Uhr abends, als ich mich aufrichte und von der Couch heruntersteige.
„Was ist los?“ fragt Heinz. „Gassi?“
Ich muss breit grinsen bei dem Gedanken. Werfe aber den Kopf in den Nacken und antworte mit einem „Bow!“
Er seufzt und erhebt sich. Dabei murmelt er:
„Was habe ich mir da bloß angelacht?“
Er geht mit mir die Treppe hinunter und schließt die Seitentür auf. Eine wunderschöne helle Vollmondnacht erwartet uns. Ich schlage den Weg zum Wäldchen ein und Heinz versucht an meiner Seite zu bleiben.
„Wo willst du hin?“ fragt er.
Ich nicke nur mit dem Kopf in Richtung Wäldchen. Wieder seufzt mein neues Herrchen. Nach etwa zehn Minuten haben wir die ersten Bäume erreicht. Wir hören hier schon die Musik und das Grölen junger Männer. Heinz‘ Stirn umwölkt sich. Ich merke, auch ihm passt es nicht, was er hier erlebt.
„Bleib‘ hier!“ meint er. „Ich muss denen die Leviten lesen.“
Mich vor ihn stellend und den Kopf schüttelnd, antworte ich ihm:
„Die jungen Männer brauchen eine Lektion, dass sie nicht denken, der Mensch stehe über der Natur und könne damit tun, was ihm beliebt. Wenn du da schimpfend auftauchst, wirst du nur ausgelacht… Gerade wenn Alkohol ihren Mut beflügelt.“
„Ja, aber… Was würdest du denn tun?“
Ich lächele verschmitzt und sage:
„Pass‘ mal auf…“
Anschließend recke ich den Hals und atme ein paarmal tief durch. Dann rufe ich:
„Bow, Bowouuu! Wouuuuuuuh.“
Noch einmal hole ich mehrfach tief Luft.
„Bow Woouuuu Wouuuuuu!“
Ich warte einen Moment. Die Musik hört auf. Noch einmal lasse ich meinen inneren Wolf heulen. Anschließend gehen wir vorsichtig über den Waldweg in das Wäldchen hinein. Wir hören die Jungen aufgeregt miteinander sprechen. Sie flüchten wohl, denn immer wieder kippt ein Rad um. Jedesmal ertönt ein kurzer Schrei und ein Fluch. Die Geräusche entfernen sich.
Heinz schaut mich grinsend von oben herab an.
„Denen hast du es aber gezeigt!“
Ich nicke und antworte:
„Die Lektion sitzt sicher. Komm, wir gehen nachhause.“
Wir drehen um. Unterwegs meint Heinz:
„Du hast das gewusst! Du bist nur hierhergelaufen, um den Jungs Angst zu machen!“
Ich lege meinen Kopf schief und schaue stumm grinsend zu ihm auf.
„Okay,“ meint er nun. „Ich denke, wir gehen schlafen.“

*

Zwei Tage später, am Montagmorgen, fahre ich in die Kreisstadt, auf deren Gebiet der Wagner-Hof liegt, um mich umzumelden. Dabei fällt mir auf, dass alle Welt von einem Wolfsüberfall auf Jugendliche redet. Die Polizei sei informiert und die Jägerschaft der Umgebung wurde beauftragt, mit Hunden nach Spuren zu suchen.
Die Reste des Nachtlagers der Jungs sind weggeräumt und entsorgt worden. Heinz hat Herr Wagner über unseren nächtlichen Spaziergang informiert. Dieser spricht mich am Dienstagmorgen darauf an, nachdem in den Radionachrichten des Montags mehrfach von Wölfen in der Nähe berichtet worden ist.
Herr Wagner grinst, als er sagt:
„Da hast du aber etwas angerichtet, Vanja! Die Leute bewegen sich nur noch vorsichtig durch die Landschaft. Radwanderungen wird es in den nächsten Wochen sicher nicht mehr geben…“
Schuldbewusst schaue ich meinen Arbeitgeber an.
„Dass es solche Wellen schlägt, war mir nicht bewusst…“ flüstere ich.
Herr Wagners Stimme klingt versöhnlich, als er antwortet:
„Kein Problem, Vanja! Ich kenne ja den Hintergrund der Geschichte. Dennoch werde ich heute in die Redaktion des Wochenblattes fahren und einen Fachbeitrag über Wölfe zur Veröffentlichung abgeben. Wölfe sind nun einmal auch hier in Deutschland eine heimische Tierart. Sie halten sich von Menschen fern. Es sind keinesfalls Menschenfresser. Das sind Märchen, Mythen und Fabeln…“